Ist eine Legasthenie heilbar?

 Ist eine Legasthenie heilbar? In der Fachwelt und in der Öffentlichkeit wird häufig die Frage diskutiert, ob die Legasthenie als spezielle veranlagte Lese-Rechtschreib-Schwäche heilbar ist. Dazu gibt es eine klare Antwort: NEIN! Aber sie ist mit verschiedenen Hilfsmitteln bzw. einer intensiven Lerntherapie und entsprechendem Training gut zu kompensieren. Daraus ergibt sich eine andere und bessere Fragestellung: Wie kann man die Legasthenie bewältigen, dass sie nicht zu einer seelischen Behinderung wird und dass die Betroffenen entsprechend ihrer Ressourcen in die Gesellschaft integriert werden?

Die Legasthenie ist eine kompensierbare Schwäche. Dieser Aussage können wir sowohl aus der fachlichen als auch aus der persönlichen Perspektive der Betroffenen eindeutig zustimmen. Andererseits ist es wichtig, diese Schwäche als einen normalen Zustand des Lebens anzunehmen. Legastheniker können in nichtsprachlichen Bereichen vielfältige und gute Begabungen haben, aber sie sind von Natur aus schriftsprachlich nicht talentiert. Sie werden keine Sprachwissenschaftler werden, aber vielleicht werden sie gute Ingenieure, Lehrer, Erzieher, Tischler oder Wissenschaftler auf anderen Gebieten. Nicht die Heilung der Legasthenie sollte im Mittelpunkt stehen – das ist verlorene Liebesmüh –, sondern die Kompensation ihrer Schwäche steht für die Betroffenen im Zentrum aller Bemühungen.

In der Fachwelt wird oft argumentiert, dass die Legasthenie eine Krankheit sei, weil sie im Manual der ICD-10 als psychisches Störbild aufgelistet wird. Das liegt vordergründig an der Forschungsgeschichte der Legasthenie, die mehrheitlich medizinisch und nicht fachübergreifend war. Es ist ein sehr umstrittenes Thema, ob man die Legasthenie als Krankheit oder Behinderung auffasst. Da es ja Therapien gibt, wird oft ohne weitere Vorkenntnisse angenommen, dass die Legasthenie heilbar ist. Doch das ist falsch. Bisher gibt es nur verschiedene Methoden, diese Schwierigkeiten zu kompensieren. Diese sind von Fall zu Fall unterschiedlich, da sich die Legasthenie bei den Betroffenen in verschiedenen Symptomen ausdrückt. Wird die Legasthenie nicht in der Kindheit erkannt und durch gezielte Förderung und Lerntherapie ausgeglichen, besteht eine reelle Gefahr, dass die Betroffenen zusätzliche seelische Probleme entwickeln. Diese führen dann zu stärkeren seelischen Belastungen und in manchen Fällen können auch chronische psychische Erkrankungen wie Depression oder Burn-out auftreten.

 

LRS-Klassen sind nicht für alle Schüler hilfreich

Wir haben uns in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema LRS-Klassen beschäftigt und mehrere Aufsätze dazu veröffentlicht. Dieses Thema ist in der Fachwelt, aber auch bei den betroffenen Familien heftig umstritten. Mit unserer umfangreichen Erfahrung stellen wir uns immer wieder die Frage: Was ist der langfristige Nutzen der LRS-Klassen für die Betroffenen?

Betroffene und ihre Eltern können oft nicht objektiv beurteilen, inwieweit ihnen der Besuch einer LRS-Klasse bei der Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Problematik geholfen hat. Ein Grund dafür ist, dass die Ursachen der vielfältigen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oft unbekannt sind. Unser Bildungswesen ist oft nicht in der Lage, die verschiedenen Lese-Rechtschreib-Schwächen (erworbene LRS) und die Legasthenie (erblich bedingt) zu unterscheiden. Umweltfaktoren wie der soziale Hintergrund der Familien, in denen die betroffenen Schüler aufwachsen, stellen einen nicht zu unterschätzenden kompensatorischen Faktor dar. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass in den zweijährigen LRS-Klassen meist 14-16 Schüler unterrichtet werden. Damit ist keine individuelle 1:1-Betreuung der Kinder möglich. Außerdem kann sich der Unterricht in LRS-Klassen als stigmatisierender „Behindertenstatus“ auf die psycho-emotionale Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinein auswirken.

Die Lehrer an den LRS-Schulen sind sonderpädagogisch ausgebildete Fachleute und geben sich viel Mühe bei der Unterstützung ihrer Schüler. Dies kann zu kurzfristigen Lerneffekten beim Lesen und Schreiben führen. Darüber hinaus erfahren viele Schüler dieser Klassen eine psychische Entlastung, weil der große Leistungsdruck des regulären Grundschulunterrichts entfällt. Diese Lerntransfers sind nicht als langfristige Effekte zur Bewältigung der Schwächen zu verstehen, sondern stellen eine mögliche Unterstützung für die Grundschulstufe dar. Nur in wenigen Fällen haben wir beobachtet, dass Kinder mittels einer LRS-Klasse ähnlich gute schriftsprachliche Leistungen erbringen wie nicht betroffene Schüler. Ehemalige LRS-Schüler haben im Erwachsenenalter oft deutliche Rückstände beim Lesen und Schreiben. In einigen der von uns geführten Interviews kamen Betroffene zu dem Schluss, dass die LRS-Klassen im Nachhinein betrachtet keine großen Fortschritte gebracht haben. Das berichteten uns Menschen aus allen sozialen Schichten.

Deutliche Langzeiteffekte zeigten sich uns bisher in nur sehr wenigen Fällen. Unseren Schätzungen nach sind nachhaltige Kompensationseffekte nur bei etwa 10 Prozent der ehemaligen LRS-Schüler festzustellen, die restlichen 90 Prozent haben durch die LRS-Klassen keine oder nur geringe Fortschritte gemacht. Wir fragen uns schon lange, warum das so ist. Unser Bildungswesen scheint nicht gewillt zu sein, diese Problematik anzugehen. Aus unserer Sicht fehlt es in diesem Bereich an fachlicher Kompetenz. LRS-Klassen spiegeln die Wissenschaft der späten 1980er Jahre wider. Dieses überholte Konzept sollte besonders in Zeiten der Inklusion schnellstmöglich überdacht werden. Leider hat sich da in den letzten Jahren nichts geändert.

Das Bildungswesen nimmt objektive Kritik an diesen Zuständen nicht ernst. Es ist nicht zu erwarten, dass sich in den nächsten Jahren in diesem Bereich etwas ändert. Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der LRS-Fälle auch infolge der Covid-19-Pandemie und der sie begleitenden staatlichen Maßnahmen weiter ansteigen wird. Denn die Schulschließungen werden sich negativ auf den Schriftspracherwerb in der Grundschule auswirken. Das wahre Ausmaß dieser Folgen wird sich erst in den kommenden Jahren herausstellen.

Die Eltern sollten sich rechtzeitig mit diesem Thema auseinandersetzen. Für sie ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, sich dabei für den richtigen Weg zu entscheiden. Deshalb wünschen sie sich eine gute Beratung durch die LRS-Stützpunkte und ihre Heimatschulen. Diese unabhängige Beratung vermissen wird leider viele Eltern, da ihnen nur die LRS-Klasse als einziger Weg zur Überwindung der Lese-Rechtschreib-Schwächen angeboten wird. Das wird von einigen Eltern verständlicherweise kritisiert. Die Schulen sollten objektiv über die verschiedenen Fördermöglichkeiten für lese-rechtschreib-schwache Kinder informieren und sie entsprechend unterstützen. Eltern, die sich dagegen entscheiden, ihre Kinder in eine LRS-Klasse zu schicken, haben oft Probleme mit den Lehrern an ihrer Schule. Manchen Lehrern fehlen das notwendige Verständnis und das Einfühlungsvermögen, wenn die Eltern einen anderen individuellen Weg wählen. Die Schulen sollten flexibler auf die individuelle Situation der Kinder eingehen. Dem steht aber häufig der staatliche Verwaltungsapparat im Weg, der eine individuelle Hilfe erschwert. In den letzten Jahren haben wir eine Reihe von Schulen gesehen, die sich gut auf die Lernbedürfnisse der Kinder einstellen. Schulen in freier Trägerschaft schneiden in diesem Bereich besonders gut ab. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr individualisiert, muss sich vor allem das öffentliche Bildungswesen verändern.

Unser Fazit: Für die meisten Kinder bedeutet der Besuch einer LRS-Klasse nur kurzfristige Erfolge bei der Bewältigung ihrer Schwächen. Die Lerneffekte sind geringer als bei einer 1:1-Betreuung. LRS-Klassen entsprechen nicht dem ethischen Gesichtspunkt einer individuellen Inklusion im Schulwesen. Außerdem werden die sehr unterschiedlichen Ursachen für eine erworbene LRS oder eine familiär veranlagte Legasthenie nicht ausreichend differenziert. Dies erschwert eine umfassende individuelle Förderung. Daher profitieren nicht alle Betroffenen von einer LRS-Klasse.


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Legasthenie und Suchterkrankungen

In den zwölf Jahren der praktischen und wissenschaftlichen Arbeit mit erwachsenen Legasthenikern haben wir einige Fälle beobachten können, bei denen Betroffene eine Suchterkrankung zusätzlich zu ihrer Legasthenie entwickelten. Bis heute gibt es dazu keine wissenschaftlichen Studien. Wir können daher nur von unseren gesammelten Erfahrungen zum Thema Suchterkrankungen und Legasthenie berichten.

In unserer modernen Gesellschaft gibt es vielfältige Suchterkrankungen. Die Alkoholsucht ist wie in der allgemeinen Bevölkerung die am häufigsten zu beobachtende Suchtkrankheit bei Erwachsenen mit Legasthenie. Dann folgen Drogensucht und andere nicht-stoffliche Süchte, wie die Online-Sucht, die sich häufig als PC-Spielsucht äußert. Nach unserer Beobachtung treten die Süchte in dieser Rangfolge bei Legasthenikern auf. Als Ursachen können hier ein vielfaches Scheitern in der schulischen Entwicklung, die familiäre Veranlagung zu einer Suchterkrankung sowie der sozioökonomische Status eine Rolle spielen. Nicht wenige Betroffene haben depressive Erkrankungen, die mit Suchtmitteln gedämpft werden.

Da Suchtmittel um Teil als Stimmungsaufheller bei depressiven Verstimmungen und anderen emotionalen Tiefs eingesetzt werden, kann man von einer recht hohen Dunkelziffer bei Erwachsenen mit Legasthenie ausgehen, die eine Sucht entwickelt haben. Dies kann man als seelische Reaktion auf emotionale Belastungen verstehen. Das häufige schulische oder spätere berufliche Scheitern begünstigt Probleme in der psychischen Selbstregulationsfähigkeit und ist ein verstärkender Stressor. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Betroffenen mit Versagensängsten und Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen haben. Einerseits könnten diese Komplexe in der frühen kindlichen Entwicklung als Folge von vorgeburtlichem Stress in der Schwangerschaft der Mutter erzeugt worden sein, andererseits können sie auch in der Pubertät der Jugendlichen auftreten. Daraus können Schwierigkeiten in der emotionalen Selbstregulation entstehen. Haben Legastheniker in diesen Bereichen in ihrer Kindheit und Jugend negative Erfahrungen gesammelt, wirkt sich das häufig ungünstig auf das Lernen, die Konzentration und die Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten aus. Diese Zusammenhänge könnten nach unseren Erkenntnissen eine Neigung zu einer Suchterkrankung bei legasthenen Erwachsenen erklären.

Die Kombination aus Legasthenie und Suchterkrankung kann im Laufe des Erwachsenenalters zu schwierigen Problemlagen führen. Betroffene können daraus eine chronische seelische Behinderung entwickeln. Dabei stellt die Legasthenie von Natur aus keine Krankheit oder Behinderung dar. Wenn Legastheniker im späteren Leben eine schwere psychische Erkrankung entwickeln, liegt das nicht an der Legasthenie. Soziale Umweltfaktoren wie ungünstige familiäre Bedingungen oder schulische Lernvoraussetzungen (Mobbing, Lernsysteme) begünstigen eine mögliche seelische Behinderung und Suchterkrankungen. Hier wird deutlich, wie wichtig eine frühe Diagnose und lerntherapeutische Förderung im Kindesalter als Prävention ist. Erhalten Erwachsene eine nachhaltige Unterstützung zur Kompensation ihrer Legasthenie, bestehen gute Chancen keine seelischen Behinderungen im Erwachsenenalter davonzutragen.

Die Dunkelziffer der Erwachsenen mit Legasthenie und einer Suchterkrankung scheint verschiedenen Schätzungen nach recht hoch zu sein. Hierzu benötigen wir noch genauere Forschungen, die sich mit den sozialen Umweltbedingungen der Betroffenen auseinandersetzt. Erst wenn wir die einzelnen Biografien verstehen, werden wir die Zusammenhänge besser einordnen können, weshalb manche Erwachsene zu seelisch Behinderten werden, andere aber nicht. Das ist bis heute noch ein Rätsel für die Wissenschaft. Denn nicht alle Legastheniker entwickeln eine chronische seelische Krankheit oder in schlimmen Fällen eine Behinderung. Darum ist das Bemühen der Selbsthilfeverbände, die Legasthenie in jedem Fall als ein psychisches Störbild anzusehen, kritisch zu hinterfragen. Wenn wir die Entwicklung von seelischen Krankheiten und Legasthenie besser verstehen wollen, müssen wir die Biografien der Betroffenen analysieren und verstehen. Eine medizinische Pauschalisierung der Legasthenie als Behinderung oder Krankheit bringt den Betroffenen keine Bewältigung ihrer Schwierigkeiten, sondern nur eine Begrenzung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten.

Corona-Krise – Chancen und Risiken für Legastheniker

Aus aktuellem Anlass möchten wir uns einmal Gedanken darüber machen, welche Chancen und Risiken die Corona-Krise mit sich bringt. Besonders für erwachsene Legastheniker brechen herausfordernde Zeiten, aber auch gute Chancen an.

Niemand kann jetzt sagen, welche Auswirkungen diese Krise in unserem Leben haben wird. Legastheniker, die schon im Vorfeld dieser aktuellen Krise verschiedene Herausforderungen im Leben bewältigt haben, können in dieser Zeit auf positive Erfahrungen zurückgreifen, denn sie wissen, dass auch Krisen ein Ende haben. Haben Legastheniker vor der Krise ihre Schwierigkeiten bewältigt, besitzen sie damit ein gutes Rüstzeug. Sie sind psychisch stabiler und werden auch nach einer erneuten innerlichen Krise wieder schneller auf die Beine kommen. Sie haben ihre schwierige schulische Biografie aufgearbeitet und sich einen guten beruflichen Stand erarbeitet. Hier sind deutliche Chancen zu sehen, da bewältigte Krisen der persönlichen Reife dienen.

Wer dagegen in der Vergangenheit seine Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben nicht bewältigt hat, kann jetzt in massive innerseelische Krisen geraten. Krisen legen oft unbearbeitete Probleme in der Biografie offen. Probleme der Kindheit kommen wieder hoch. Vor allem dann, wenn man im Elternhaus wenig Unterstützung bei der Bewältigung seiner Schwäche erfahren hat. Oder Lehrer haben einen mit der Legasthenie gedemütigt und mit Unverständnis darauf reagiert. Das zeigt sich dann besonders in der Bewältigung der Krise. Diese aktuelle gesamtgesellschaftliche Krise ist dennoch auch individuell und persönlich, denn sie ist eng mit den biografischen Erfahrungen des Einzelnen verknüpft.

Hier werden die Chancen und Risiken dieser Krise deutlich. Legastheniker, die ihre Schwierigkeiten bewältigt haben, haben deutlich bessere Chancen, aus dieser neuerlichen Krise gestärkt hervorzugehen. Leider gibt es viele Betroffene, die ihre Legasthenie nie mit psychologischen Therapien oder lerntherapeutischen Maßnahmen bearbeitet haben. Für diese Betroffenen wird die aktuelle Krise, die ja nicht nur eine medizinische Epidemie bedeutet, weitere Schwierigkeiten auslösen. Sie kann den Verlust des Jobs, den Todesfall eines Angehörigen bzw. finanzielle Einbußen verursachen. Man kann heute noch nicht vollständig abschätzen, was diese Krise auslösen wird. Diese Verkettung von Problemen kann große psychische Belastungen hervorrufen.

Leider gab es in der Vergangenheit von staatlicher Seite kaum Hilfe für die Betroffenen. Denn häufig konnten sich nur mittelständische Legastheniker eine Förderung leisten. Sozial Benachteiligte hatten meistens das Nachsehen.

Die Corona-Krise wird viele Probleme im Bildungswesen, im Sozial- und Gesundheitswesen bzw. in der Arbeitswelt verdeutlichen. Es wird deutlich werden, dass wir über viele Jahre unser Bildungswesen nicht reformiert haben. Für das systemrelevante Sozialwesen hatte der Staat sehr wenig Geld übrig. Das betrifft besonders die sozial schwächeren Betroffenen, die möglicherweise diese Krise nicht so leicht bewältigen werden. Hier braucht es zivilgesellschaftliche Hilfen in der Betreuung von Betroffenen. Darum sollte der Staat gemeinnützige Initiativen besser fördern und unterstützen. Sonst wird unser Gemeinwesen noch weniger in der Lage sein, diese Aufgaben zu stemmen, denn in den letzten Jahrzehnten wurde in diesem Bereich zu wenig getan.