LRS-Klassen sind nicht für alle Schüler hilfreich

Wir haben uns in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema LRS-Klassen beschäftigt und mehrere Aufsätze dazu veröffentlicht. Dieses Thema ist in der Fachwelt, aber auch bei den betroffenen Familien heftig umstritten. Mit unserer umfangreichen Erfahrung stellen wir uns immer wieder die Frage: Was ist der langfristige Nutzen der LRS-Klassen für die Betroffenen?

Betroffene und ihre Eltern können oft nicht objektiv beurteilen, inwieweit ihnen der Besuch einer LRS-Klasse bei der Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Problematik geholfen hat. Ein Grund dafür ist, dass die Ursachen der vielfältigen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten oft unbekannt sind. Unser Bildungswesen ist oft nicht in der Lage, die verschiedenen Lese-Rechtschreib-Schwächen (erworbene LRS) und die Legasthenie (erblich bedingt) zu unterscheiden. Umweltfaktoren wie der soziale Hintergrund der Familien, in denen die betroffenen Schüler aufwachsen, stellen einen nicht zu unterschätzenden kompensatorischen Faktor dar. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass in den zweijährigen LRS-Klassen meist 14-16 Schüler unterrichtet werden. Damit ist keine individuelle 1:1-Betreuung der Kinder möglich. Außerdem kann sich der Unterricht in LRS-Klassen als stigmatisierender „Behindertenstatus“ auf die psycho-emotionale Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinein auswirken.

Die Lehrer an den LRS-Schulen sind sonderpädagogisch ausgebildete Fachleute und geben sich viel Mühe bei der Unterstützung ihrer Schüler. Dies kann zu kurzfristigen Lerneffekten beim Lesen und Schreiben führen. Darüber hinaus erfahren viele Schüler dieser Klassen eine psychische Entlastung, weil der große Leistungsdruck des regulären Grundschulunterrichts entfällt. Diese Lerntransfers sind nicht als langfristige Effekte zur Bewältigung der Schwächen zu verstehen, sondern stellen eine mögliche Unterstützung für die Grundschulstufe dar. Nur in wenigen Fällen haben wir beobachtet, dass Kinder mittels einer LRS-Klasse ähnlich gute schriftsprachliche Leistungen erbringen wie nicht betroffene Schüler. Ehemalige LRS-Schüler haben im Erwachsenenalter oft deutliche Rückstände beim Lesen und Schreiben. In einigen der von uns geführten Interviews kamen Betroffene zu dem Schluss, dass die LRS-Klassen im Nachhinein betrachtet keine großen Fortschritte gebracht haben. Das berichteten uns Menschen aus allen sozialen Schichten.

Deutliche Langzeiteffekte zeigten sich uns bisher in nur sehr wenigen Fällen. Unseren Schätzungen nach sind nachhaltige Kompensationseffekte nur bei etwa 10 Prozent der ehemaligen LRS-Schüler festzustellen, die restlichen 90 Prozent haben durch die LRS-Klassen keine oder nur geringe Fortschritte gemacht. Wir fragen uns schon lange, warum das so ist. Unser Bildungswesen scheint nicht gewillt zu sein, diese Problematik anzugehen. Aus unserer Sicht fehlt es in diesem Bereich an fachlicher Kompetenz. LRS-Klassen spiegeln die Wissenschaft der späten 1980er Jahre wider. Dieses überholte Konzept sollte besonders in Zeiten der Inklusion schnellstmöglich überdacht werden. Leider hat sich da in den letzten Jahren nichts geändert.

Das Bildungswesen nimmt objektive Kritik an diesen Zuständen nicht ernst. Es ist nicht zu erwarten, dass sich in den nächsten Jahren in diesem Bereich etwas ändert. Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der LRS-Fälle auch infolge der Covid-19-Pandemie und der sie begleitenden staatlichen Maßnahmen weiter ansteigen wird. Denn die Schulschließungen werden sich negativ auf den Schriftspracherwerb in der Grundschule auswirken. Das wahre Ausmaß dieser Folgen wird sich erst in den kommenden Jahren herausstellen.

Die Eltern sollten sich rechtzeitig mit diesem Thema auseinandersetzen. Für sie ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, sich dabei für den richtigen Weg zu entscheiden. Deshalb wünschen sie sich eine gute Beratung durch die LRS-Stützpunkte und ihre Heimatschulen. Diese unabhängige Beratung vermissen wird leider viele Eltern, da ihnen nur die LRS-Klasse als einziger Weg zur Überwindung der Lese-Rechtschreib-Schwächen angeboten wird. Das wird von einigen Eltern verständlicherweise kritisiert. Die Schulen sollten objektiv über die verschiedenen Fördermöglichkeiten für lese-rechtschreib-schwache Kinder informieren und sie entsprechend unterstützen. Eltern, die sich dagegen entscheiden, ihre Kinder in eine LRS-Klasse zu schicken, haben oft Probleme mit den Lehrern an ihrer Schule. Manchen Lehrern fehlen das notwendige Verständnis und das Einfühlungsvermögen, wenn die Eltern einen anderen individuellen Weg wählen. Die Schulen sollten flexibler auf die individuelle Situation der Kinder eingehen. Dem steht aber häufig der staatliche Verwaltungsapparat im Weg, der eine individuelle Hilfe erschwert. In den letzten Jahren haben wir eine Reihe von Schulen gesehen, die sich gut auf die Lernbedürfnisse der Kinder einstellen. Schulen in freier Trägerschaft schneiden in diesem Bereich besonders gut ab. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr individualisiert, muss sich vor allem das öffentliche Bildungswesen verändern.

Unser Fazit: Für die meisten Kinder bedeutet der Besuch einer LRS-Klasse nur kurzfristige Erfolge bei der Bewältigung ihrer Schwächen. Die Lerneffekte sind geringer als bei einer 1:1-Betreuung. LRS-Klassen entsprechen nicht dem ethischen Gesichtspunkt einer individuellen Inklusion im Schulwesen. Außerdem werden die sehr unterschiedlichen Ursachen für eine erworbene LRS oder eine familiär veranlagte Legasthenie nicht ausreichend differenziert. Dies erschwert eine umfassende individuelle Förderung. Daher profitieren nicht alle Betroffenen von einer LRS-Klasse.


Weitere Berichte zum Thema:

 

Warum ist das Thema LRS-Klasse ein viel diskutiertes Thema?

Wir erleben es seit der Gründung unseres Instituts hier in Dresden, dass Sonderschulen in Form von LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema sind. Es braucht zu diesem Thema noch viel Aufklärungsarbeit bei Eltern, die Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten haben.

Warum sind LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema?

Objektiv gesehen sind LRS-Klassen selbst in der Fachwelt ein umstrittenes Thema. Sie existieren nur in Sachsen und Thüringen. Auch die Selbsthilfeverbände sind sich in ihrer Beurteilung uneins. Der Landesverband Legasthenie Sachsen spricht sich für eine derartige Beschulung aus. Dagegen spricht sich der Kindes- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne für eine Einzeltherapie bzw. Einzelförderung bei Legasthenikern aus und findet eine Gruppenförderung weniger hilfreich. Es gibt bei den Legasthenie-Verbänden unterschiedliche Auffassungen darüber, ob LRS-Klassen für legasthene Schüler geeignet sind oder nicht. Nach unseren Beobachtungen der letzten Jahre kann gesagt werden, dass sich diese Sonderbeschulung unterschiedlich auf die Kinder auswirkt. Diese Klassen können eine Ergänzung zur Bewältigung der Schwächen darstellen – sie müssen es aber nicht. Bei einigen Kindern kann es vorkommen, dass diese nach einer LRS-Klasse nur wenige Fortschritte gemacht haben. Hier spielen individuelle Lernprobleme und die familiäre Unterstützung eine große Rolle, ob die Schüler eine Legasthenie oder LRS bewältigen können. Diese Lernunterstützung in Gruppenform und einem eng begrenzten Zeitraum ist in nicht wenigen Fällen zu wenig.

Die Ursachen der Lese-Rechtschreib-Schwächen werden zu wenig berücksichtigt

Weil man die Ursachen für Lese-Rechtschreib-Schwächen bei einer LRS-Feststellung zu wenig berücksichtigt, kann es dabei zu Fehleinschätzungen kommen. Häufig fallen Kinder mit höherer Intelligenz und einer Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht auf und fallen durch das LRS-Kriterium der Schule. Die meisten positiv getesteten Kinder fallen durch familiäre Probleme und deutliche sprachliche oder motorische Defizite auf und kommen dann in eine LRS-Klasse. LRS-Feststellungen bedeuten deshalb keine Individualdiagnostik, sondern sind ein grobes Gruppentest-Verfahren, was meistens nur eine symptomatische Einschätzung ermöglicht. Die Ursachen für diese unterschiedlichen Schwächen werden meistens nicht berücksichtigt, da den Fachleuten oft das Hintergrundwissen fehlt. Kinder werden erst dann gute Lernfortschritte erlangen, wenn die Ursachen für die Schwierigkeiten erkannt werden. Diese liegen nicht selten im sozialen Hintergrund der Familie (trifft bei LRS zu) oder Elternteile hatten ähnliche Schwierigkeiten in der Schule (trifft bei Legasthenie zu) oder das Kind erlebte bei normaler Intelligenz eine verlangsamte kindliche Entwicklung. Diese Hinweise fehlen in der Regel im LRS-Feststellungverfahren. Deshalb kommt es immer wieder zu falschen Einschätzungen.

Inklusion und der Aspekt der Menschenwürde

In der Bildungspolitik steht das Thema Inklusion schon seit längerer Zeit auf der Agenda. LRS-Klassen sind aus dieser Perspektive umstritten, weil die betroffenen Schüler mit dieser Beschulungsform separiert und nicht integriert werden. Wir kennen Schüler, die nach der LRS-Klasse größere Schwierigkeiten hatten, in der 4. Klasse ihrer Heimatschule wieder fußzufassen. Aus dem Aspekt der Menschenwürde heraus steht jedem Kind eine individuelle Integration zu. Daraus ergeben sich Fragen, über die sich alle Beteiligten Gedanken machen müssen. Aus Berichten von Betroffenen und deren Eltern wissen wir, dass LRS-Klassen oft soziale Brennpunkte sind. Zumindest ist das aus den größeren Städten wie Dresden, Leipzig und Chemnitz zu hören. Hier stellt sich die Frage, ob diese Herangehensweise dann wirklich einen integrativen Zweck hat. Besser wäre es für die betroffenen Schüler, wenn sie ein sozial stabiles Lernumfeld erleben. Dadurch verbessern sich die Chancen, die Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb zu bewältigen. Leider wird der soziale Gesichtspunkt im Bildungswesen nicht berücksichtigt.

In Zeiten der Inklusion braucht es eigentlich keine LRS-Klassen, sondern die Lehrer an den Schulen sollten in der Lage sein, Kinder differenziert entsprechend ihrer Veranlagungen und Fertigkeiten zu unterstützen. Aus diesem Grund werden LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema bleiben und das Thema Menschenwürde sollte dabei nicht vernachlässigt werden. Kinder können durch diese Separationserfahrung langfristig einen seelischen Schaden nehmen. Uns sind einige Fälle von Erwachsenen bekannt, die mit dieser Erfahrung psychische Folgen davongetragen haben. Die Eltern sollten sich genau mit der Thematik auseinandersetzen und die Entscheidung für oder gegen eine solche Sonderschule gemeinsam mit dem Kind abwägen – sind sich Eltern unsicher, sollten sie sich von Experten beraten lassen, um eine objektive Entscheidung zu treffen. Viele Schulen sind bei der Beratung der Eltern leider häufig nicht objektiv. Den Familien steht das Recht zu, eine selbstständige und mündige Entscheidung zum Wohle des Kindes zu treffen. So kann die Bewältigung der Schwäche gelingen.

 

 

Wer nicht von Legasthenie betroffen ist, kann uns nicht verstehen

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte

Lars_Michael_LehmannJa, viele Menschen, die keine Probleme beim Lesen und Schreiben haben, können diese Schwierigkeiten nicht oder nur selten nachvollziehen. Das betrifft nicht nur Lehrer oder Eltern, die keine Schwierigkeiten in der Schulzeit hatten oder diese verheimlichen. Es betrifft auch Fachleute, die mit legasthenen Kindern arbeiten. Mitreden kann man nur, wenn man die Probleme erlebt und durchlebt sowie im Leben bewältigt hat. Darum haben wir wenige Fachleute auf unserem Feld, die die Schwierigkeiten bei uns Betroffenen wirklich nachvollziehen können. Deshalb gibt es häufig nur wenig Verständnis für die Problematik in unseren Familien wie in der gesamten Gesellschaft.

In unserer Gesellschaft meint man noch heute, dass man als Legastheniker zu „faul“ bzw. zu „dumm“ ist oder aus Bequemlichkeit diese Schwäche hat. Sicherlich gibt es Menschen, die meinen, sich damit einen Vorteil zu verschaffen, indem sie sich einen Nachteilsausgleich für Prüfungen im Studium oder der Berufsausbildung erschleichen wollen. So ist es in der Regel nicht, die Mehrheit der Hilfesuchenden ist wirklich betroffen. Der Großteil kann die Schwierigkeiten über ihre gesamte Schulzeit belegen. Zumindest müssen sie diese in unserem Institut durch ihre Zeugnisse belegen. Dazu reicht häufig eine Diagnostik nach den Kriterien des ICD-10-Manuals nicht aus, denn diese Herangehensweise orientiert sich nur an einem Störbild und trägt wenig zur Bewältigung der Schwäche bei. Darum helfen klinische Diagnosen als Lese-Rechtschreib-Störung den Betroffenen wenig. Was soll man mit einer Störung nur anfangen? Eine Hilfe zur Bewältigung kann das nicht bedeuten! Deshalb wäre eine Abschaffung dieser Richtlinien der ICD-10, die uns Betroffene diskriminiert, besser. Ein diagnostiziertes Störbild hilft niemandem. Besser wäre es, die Probleme zu erkennen und zielorientiert durch eine spezielle Förderung bewältigen zu lernen. Dazu benötigt man kein Störbild, sondern hier braucht es gesunden Menschenverstand und den Willen zu Bewältigung.

Nicht wenige Betroffene hatten während der gesamten Schulzeit ihre Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und das in unterschiedlich starker Ausprägung. Sicherlich ähneln sich einige Fälle, doch jeder Betroffene hat eine andere Entwicklungsgeschichte und eine andere familiäre Prägung erlebt. Deshalb verlief die Bewältigung der Schwierigkeiten bei erwachsenen Legasthenikern unterschiedlich.

Viele Betroffene klagen über das gesellschaftliche Unverständnis. Das hört man vom normalen Handwerksgesellen bis zum promovierten Akademiker. Sicherlich liegt es nicht selten an der Kindheit, wie die Probleme bewältigt wurden. Betroffene mit einem  stabilen familiären Gefüge werden die Probleme häufig besser bewältigt haben als solche, wo es familiäre Belastungen gab wie Trennung der Eltern oder Streitigkeiten, psychische Erkrankungen oder Arbeitslosigkeit, suchterkrankte Elternteile etc. Hier sieht man deutlich, dass die Betroffenen ganz unterschiedlich sein können, weshalb eine gesellschaftliche Ignoranz fehl am Platz ist.

Sicherlich wäre mehr Offenheit und Verständnis in unserer Gesellschaft ganz gut. Viel wichtiger ist aber, dass wir uns als Betroffene unserer vorhandenen Stärken bewusster werden, diese sollten der Fokus sein und nicht eine lebensferne Störung, die uns ideologisch dominierte Selbsthilfeverbände und Gruppen einreden wollen. Es kann nicht das Ziel sein, uns gegenseitig zu vergewissern, wie schlecht unsere Gesellschaft und wie unverständig unsere Umwelt auf uns reagiert. Wie schon in der Überschrift gesagt: „Wer nicht von Legasthenie betroffen ist, kann uns nicht verstehen“. Darum sollten wir uns auf unsere Stärken besinnen und nicht auf unsere Schwächen, denn die gilt es zu bewältigen! Wir werden die Schwierigkeiten nur in den Griff bekommen, wenn wir uns keine medizinische Störung einreden lassen.

 

Ein Erlebnisbericht über einen Schüler einer LRS-Klasse

Ein Erlebnisbericht über einen Schüler einer LRS-Klasse

Heute berichten wir über einen Schüler einer LRS-Klasse aus Dresden. Wir nennen ihn aus Datenschutzgründen Martin. Er ging auf eine Sonderschule, die man in Sachsen und Thüringen als LRS-Klasse bezeichnet. Danach kam die Herausforderung, in der normalen Grundschulklasse seiner alten Heimatgrundschule klarzukommen. Seine Eltern meinten damals, dass ihm der Besuch der LRS-Klasse zwar Fortschritte, aber keine optimale Bewältigung seiner Schwäche brachte, sodass er sich nicht wie die anderen Schüler seiner Altersklasse (4. Klasse) entwickeln konnte. Wir beobachteten in den letzten Jahren mehrere ähnliche Fälle.

Kurz zur Vorgeschichte des Schülers

Martin hatte eine normale kindliche Entwicklung, er war aber schon recht früh in logopädischer und ergotherapeutischer Behandlung. Er hatte als Kind keine Krabbelphase. Das ist ein häufiges Indiz für mögliche Probleme beim Schriftspracherwerb. Viele Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen haben eine ähnliche frühe Entwicklungsphase durchgemacht. Sein Vater ist Legastheniker und erlernte einen technischen Beruf. Seine Mutter hatte keine derartigen Probleme und arbeitete in einem sozial-medizinischen Beruf. Martins Legasthenie führte zu keinen schweren psychischen Schäden, aber er hatte leichte Probleme mit dem Selbstbewusstsein und war recht demotiviert beim Lesen und Schreiben. Er ließ sich recht leicht ablenken und hatte Schwierigkeiten, sich auf die wesentlichen Sachen des Lernens zu konzentrieren. Dabei konnte er sich mündlich gut ausdrücken, die anderen Fächer außer Deutsch fielen ihm recht leicht. Er war vielseitig interessiert, z.B. an Natur und Technik. Von seiner Grundintelligenz her hätte er das Abitur durchaus schaffen können.

Viele legasthene Schüler haben dazu in Fremdsprachen größere Probleme, deshalb wählen die Eltern oft den Weg über die Oberschule. Der Besuch des Gymnasiums wäre für Martin eine zu große Belastung geworden. Wir beobachteten einige betroffene Schüler, die trotz ihrer „Schwäche“ ein anspruchsvolles Abitur zum Beispiel an der Internationalen Schule oder am Bertolt-Brecht-Gymnasium Dresden schafften. Ob ein Schüler das Abitur schafft, hängt nicht nur von der Schwere der Lese-Rechtschreib-Schwäche ab, sondern auch davon, wie er in der Grundschulzeit gefördert wurde. Schüler, die zuvor in einer LRS-Klasse waren, schaffen es seltener, auf qualitativ hochwertige Gymnasien zu gehen. Dabei kann die im Vorfeld erlebte Separationserfahrung, die häufig als Stigmatisierung erlebt wird, die Betroffenen trotz guter Intelligenz an einem höherwertigen Schulabschluss hindern. Von Legasthenie betroffene Schüler leistungsstarker Gymnasien waren zuvor auf keiner LRS-Klasse, sondern sie wurden häufig extern neben der normalen Grundschule unterstützt und gefördert bzw. sie gingen in der Grundschulzeit auf Schulen in freier Trägerschaft.

Weitere Einschätzung und Diagnostik

Wenn Lese-Rechtschreib-Schwächen gehäufter in Familien auftreten, ist davon auszugehen, dass der legasthene Schüler eine intensive 1:1 Betreuung braucht. In Martins Fall wurden die Probleme in der LRS-Klasse nicht ausreichend genug kompensiert. In der weiteren Diagnostik wurde deutlich, dass er in der LRS-Klasse leichte Fortschritte beim Lesen machte, aber weiterhin starke Probleme in der Grammatik und Orthografie hatte.

Sicherlich mag es andere Fälle geben, die deutlichere Fortschritte durch eine Sonderklasse gemacht haben, in seinem Fall war es nicht so. Seine Lese- und Schreibleistungen waren weiterhin deutlich unter dem zu erwartenden Klassendurchschnitt der 4. Klasse. Nach dem Besuch der LRS-Klasse hätte man erwartet, dass sich die Leistungen im Fach Deutsch angeglichen hätten.

Nun musste er sich in einen fremden Klassenverband einfügen. Die Eltern suchten für ihn einen Platz in einer Schule in freier Trägerschaft ab der 5. Klasse, wo er zusätzlich eine umfassende Förderung erhielt. Das Ziel war der erfolgreiche Abschluss der Realschule.

Seine Förderung

Das erste Jahr gestaltete sich für Martin nicht einfach. Der Wechsel in die ihm fremde 4. Klasse seiner alten Grundschule war eine enorme Umstellung. Er wurde sozusagen aus seinem Biotop „LRS-Klasse“, wo der Lernstoff wesentlich langsamer unterrichtet wurde, herausgerissen und musste mit dem normalen Lerntempo klarkommen. Martin hatte eine gute und schnelle Auffassungsgabe, auch im mündlichen Bereich konnte er sich gut artikulieren. Nur seine Leistungen im Fach Deutsch waren, wie schon erwähnt, weit unterdurchschnittlich.

Dazu stellten sich noch mehr Probleme im Selbstbewusstsein und in der Konzentration ein. Diese Bereiche mussten in der Einzelförderung bei uns stabilisiert und gefördert werden, damit dieser Schüler keinen seelischen Schaden davontrug. Denn er glaubte von sich selbst, dass er zu dumm zum Schreiben wäre. Dazu waren seine Eltern mit ihm recht ungeduldig. Wir arbeiteten weiter an den erkannten Problemen im Lesen und Schreiben. In kleinen Schritten ging es voran. Nach dem Besuch der LRS-Klasse hatte er keine ordentliche Schreibschrift entwickelt, die dort wohl vernachlässigt worden war. Er lernte nochmals kleinschrittig die verbundene Schreibschrift und wurde intensiv in der phonologischen Bewusstheit gefördert. Martin hatte phasenweise größere Motivationsprobleme, die mit seiner Schwäche zusammenhingen. Er benötigte viel Ermutigung und Wertschätzung, um an den Schwierigkeiten dranzubleiben.

Sein Förderzeitraum dauerte länger als bei Schülern, die keine LRS-Klasse besucht hatten. Martin hatte eine sehr stark ausgeprägte Legasthenie, die der des Vaters stark ähnelte.

Jetzt ist er Schüler in der 8. Klasse einer Oberschule in freier Trägerschaft. Er gehört heute zu den besten Schülern seines Schuljahrgangs. Bis heute gewährte ihm die Schule einen Nachteilsausgleich. Er wird inzwischen trotzdem in der Rechtschreibung bewertet, weil bei ihm immer die Gefahr bestand, dass er sich auf seinem Ausgleich ausruhte.

In der 7. Klasse wurde dieser Ausgleich auf unsere Empfehlung hin von der Lehrerkonferenz angepasst. Nun hatte er etwas mehr Motivation und musste an seinen Schwierigkeiten arbeiten. Aktuell kann er sie gut kompensieren. Er ist ein seelisch stabiler Jugendlicher geworden. Heute kann er gut mit seiner Schwäche umgehen und ist sich seiner Fähigkeiten bewusst. Auf dem letzten Zeugnis stand in Deutsch eine 2. Sein Zeugnisdurchschnitt liegt insgesamt bei 2,3.

Ohne die zusätzliche Förderung hätte sich der heute 14jährige Martin wahrscheinlich nicht so gut entwickeln können.