ein erlebnisbericht über einen schüler einer lrs-klasse

Heute berichten wir über einen Schüler einer LRS-Klasse aus Dresden. Wir nennen ihn aus Datenschutzgründen Martin. Er ging auf eine Sonderschule, die man in Sachsen und Thüringen als LRS-Klasse bezeichnet. Danach kam die Herausforderung, in der normalen Grundschulklasse seiner alten Heimatgrundschule klarzukommen. Seine Eltern meinten damals, dass ihm der Besuch der LRS-Klasse zwar Fortschritte, aber keine optimale Bewältigung seiner Schwäche brachte, sodass er sich nicht wie die anderen Schüler seiner Altersklasse (4. Klasse) entwickeln konnte. Wir beobachteten in den letzten Jahren mehrere ähnliche Fälle.

Kurz zur Vorgeschichte des Schülers

Martin hatte eine normale kindliche Entwicklung, er war aber schon recht früh in logopädischer und ergotherapeutischer Behandlung. Er hatte als Kind keine Krabbelphase. Das ist ein häufiges Indiz für mögliche Probleme beim Schriftspracherwerb. Viele Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen haben eine ähnliche frühe Entwicklungsphase durchgemacht. Sein Vater ist Legastheniker und erlernte einen technischen Beruf. Seine Mutter hatte keine derartigen Probleme und arbeitete in einem sozial-medizinischen Beruf. Martins Legasthenie führte zu keinen schweren psychischen Schäden, aber er hatte leichte Probleme mit dem Selbstbewusstsein und war recht demotiviert beim Lesen und Schreiben. Er ließ sich recht leicht ablenken und hatte Schwierigkeiten, sich auf die wesentlichen Sachen des Lernens zu konzentrieren. Dabei konnte er sich mündlich gut ausdrücken, die anderen Fächer außer Deutsch fielen ihm recht leicht. Er war vielseitig interessiert, z.B. an Natur und Technik. Von seiner Grundintelligenz her hätte er das Abitur durchaus schaffen können.

Viele legasthene Schüler haben dazu in Fremdsprachen größere Probleme, deshalb wählen die Eltern oft den Weg über die Oberschule. Der Besuch des Gymnasiums wäre für Martin eine zu große Belastung geworden. Wir beobachteten einige betroffene Schüler, die trotz ihrer „Schwäche“ ein anspruchsvolles Abitur zum Beispiel an der Internationalen Schule oder am Bertolt-Brecht-Gymnasium Dresden schafften. Ob ein Schüler das Abitur schafft, hängt nicht nur von der Schwere der Lese-Rechtschreib-Schwäche ab, sondern auch davon, wie er in der Grundschulzeit gefördert wurde. Schüler, die zuvor in einer LRS-Klasse waren, schaffen es seltener, auf qualitativ hochwertige Gymnasien zu gehen. Dabei kann die im Vorfeld erlebte Separationserfahrung, die häufig als Stigmatisierung erlebt wird, die Betroffenen trotz guter Intelligenz an einem höherwertigen Schulabschluss hindern. Von Legasthenie betroffene Schüler leistungsstarker Gymnasien waren zuvor auf keiner LRS-Klasse, sondern sie wurden häufig extern neben der normalen Grundschule unterstützt und gefördert bzw. sie gingen in der Grundschulzeit auf Schulen in freier Trägerschaft.

Weitere Einschätzung und Diagnostik

Wenn Lese-Rechtschreib-Schwächen gehäufter in Familien auftreten, ist davon auszugehen, dass der legasthene Schüler eine intensive 1:1 Betreuung braucht. In Martins Fall wurden die Probleme in der LRS-Klasse nicht ausreichend genug kompensiert. In der weiteren Diagnostik wurde deutlich, dass er in der LRS-Klasse leichte Fortschritte beim Lesen machte, aber weiterhin starke Probleme in der Grammatik und Orthografie hatte.

Sicherlich mag es andere Fälle geben, die deutlichere Fortschritte durch eine Sonderklasse gemacht haben, in seinem Fall war es nicht so. Seine Lese- und Schreibleistungen waren weiterhin deutlich unter dem zu erwartenden Klassendurchschnitt der 4. Klasse. Nach dem Besuch der LRS-Klasse hätte man erwartet, dass sich die Leistungen im Fach Deutsch angeglichen hätten.

Nun musste er sich in einen fremden Klassenverband einfügen. Die Eltern suchten für ihn einen Platz in einer Schule in freier Trägerschaft ab der 5. Klasse, wo er zusätzlich eine umfassende Förderung erhielt. Das Ziel war der erfolgreiche Abschluss der Realschule.

Seine Förderung

Das erste Jahr gestaltete sich für Martin nicht einfach. Der Wechsel in die ihm fremde 4. Klasse seiner alten Grundschule war eine enorme Umstellung. Er wurde sozusagen aus seinem Biotop „LRS-Klasse“, wo der Lernstoff wesentlich langsamer unterrichtet wurde, herausgerissen und musste mit dem normalen Lerntempo klarkommen. Martin hatte eine gute und schnelle Auffassungsgabe, auch im mündlichen Bereich konnte er sich gut artikulieren. Nur seine Leistungen im Fach Deutsch waren, wie schon erwähnt, weit unterdurchschnittlich.

Dazu stellten sich noch mehr Probleme im Selbstbewusstsein und in der Konzentration ein. Diese Bereiche mussten in der Einzelförderung bei uns stabilisiert und gefördert werden, damit dieser Schüler keinen seelischen Schaden davontrug. Denn er glaubte von sich selbst, dass er zu dumm zum Schreiben wäre. Dazu waren seine Eltern mit ihm recht ungeduldig. Wir arbeiteten weiter an den erkannten Problemen im Lesen und Schreiben. In kleinen Schritten ging es voran. Nach dem Besuch der LRS-Klasse hatte er keine ordentliche Schreibschrift entwickelt, die dort wohl vernachlässigt worden war. Er lernte nochmals kleinschrittig die verbundene Schreibschrift und wurde intensiv in der phonologischen Bewusstheit gefördert. Martin hatte phasenweise größere Motivationsprobleme, die mit seiner Schwäche zusammenhingen. Er benötigte viel Ermutigung und Wertschätzung, um an den Schwierigkeiten dranzubleiben.

Sein Förderzeitraum dauerte länger als bei Schülern, die keine LRS-Klasse besucht hatten. Martin hatte eine sehr stark ausgeprägte Legasthenie, die der des Vaters stark ähnelte.

Jetzt ist er Schüler in der 8. Klasse einer Oberschule in freier Trägerschaft. Er gehört heute zu den besten Schülern seines Schuljahrgangs. Bis heute gewährte ihm die Schule einen Nachteilsausgleich. Er wird inzwischen trotzdem in der Rechtschreibung bewertet, weil bei ihm immer die Gefahr bestand, dass er sich auf seinem Ausgleich ausruhte.

In der 7. Klasse wurde dieser Ausgleich auf unsere Empfehlung hin von der Lehrerkonferenz angepasst. Nun hatte er etwas mehr Motivation und musste an seinen Schwierigkeiten arbeiten. Aktuell kann er sie gut kompensieren. Er ist ein seelisch stabiler Jugendlicher geworden. Heute kann er gut mit seiner Schwäche umgehen und ist sich seiner Fähigkeiten bewusst. Auf dem letzten Zeugnis stand in Deutsch eine 2. Sein Zeugnisdurchschnitt liegt insgesamt bei 2,3.

Ohne die zusätzliche Förderung hätte sich der heute 14jährige Martin wahrscheinlich nicht so gut entwickeln können.