Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte

lars_michael_lehmannJa, viele Menschen, die keine Probleme beim Lesen und Schreiben haben, können diese Schwierigkeiten nicht oder nur selten nachvollziehen. Das betrifft nicht nur Lehrer oder Eltern, die keine Schwierigkeiten in der Schulzeit hatten oder diese verheimlichen. Es betrifft auch Fachleute, die mit legasthenen Kindern arbeiten. Mitreden kann man nur, wenn man die Probleme erlebt und durchlebt sowie im Leben bewältigt hat. Darum haben wir wenige Fachleute auf unserem Feld, die die Schwierigkeiten bei uns Betroffenen wirklich nachvollziehen können. Deshalb gibt es häufig nur wenig Verständnis für die Problematik in unseren Familien wie in der gesamten Gesellschaft.

In unserer Gesellschaft meint man noch heute, dass man als Legastheniker zu „faul“ bzw. zu „dumm“ ist oder aus Bequemlichkeit diese Schwäche hat. Sicherlich gibt es Menschen, die meinen, sich damit einen Vorteil zu verschaffen, indem sie sich einen Nachteilsausgleich für Prüfungen im Studium oder der Berufsausbildung erschleichen wollen. So ist es in der Regel nicht, die Mehrheit der Hilfesuchenden ist wirklich betroffen. Der Großteil kann die Schwierigkeiten über ihre gesamte Schulzeit belegen. Zumindest müssen sie diese in unserem Institut durch ihre Zeugnisse belegen. Dazu reicht häufig eine Diagnostik nach den Kriterien des ICD-10-Manuals nicht aus, denn diese Herangehensweise orientiert sich nur an einem Störbild und trägt wenig zur Bewältigung der Schwäche bei. Darum helfen klinische Diagnosen als Lese-Rechtschreib-Störung den Betroffenen wenig. Was soll man mit einer Störung nur anfangen? Eine Hilfe zur Bewältigung kann das nicht bedeuten! Deshalb wäre eine Abschaffung dieser Richtlinien der ICD-10, die uns Betroffene diskriminiert, besser. Ein diagnostiziertes Störbild hilft niemandem. Besser wäre es, die Probleme zu erkennen und zielorientiert durch eine spezielle Förderung bewältigen zu lernen. Dazu benötigt man kein Störbild, sondern hier braucht es gesunden Menschenverstand und den Willen zu Bewältigung.

Nicht wenige Betroffene hatten während der gesamten Schulzeit ihre Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und das in unterschiedlich starker Ausprägung. Sicherlich ähneln sich einige Fälle, doch jeder Betroffene hat eine andere Entwicklungsgeschichte und eine andere familiäre Prägung erlebt. Deshalb verlief die Bewältigung der Schwierigkeiten bei erwachsenen Legasthenikern unterschiedlich.

Viele Betroffene klagen über das gesellschaftliche Unverständnis. Das hört man vom normalen Handwerksgesellen bis zum promovierten Akademiker. Sicherlich liegt es nicht selten an der Kindheit, wie die Probleme bewältigt wurden. Betroffene mit einem  stabilen familiären Gefüge werden die Probleme häufig besser bewältigt haben als solche, wo es familiäre Belastungen gab wie Trennung der Eltern oder Streitigkeiten, psychische Erkrankungen oder Arbeitslosigkeit, suchterkrankte Elternteile etc. Hier sieht man deutlich, dass die Betroffenen ganz unterschiedlich sein können, weshalb eine gesellschaftliche Ignoranz fehl am Platz ist.

Sicherlich wäre mehr Offenheit und Verständnis in unserer Gesellschaft ganz gut. Viel wichtiger ist aber, dass wir uns als Betroffene unserer vorhandenen Stärken bewusster werden, diese sollten der Fokus sein und nicht eine lebensferne Störung, die uns ideologisch dominierte Selbsthilfeverbände und Gruppen einreden wollen. Es kann nicht das Ziel sein, uns gegenseitig zu vergewissern, wie schlecht unsere Gesellschaft und wie unverständig unsere Umwelt auf uns reagiert. Wie schon in der Überschrift gesagt: „Wer nicht von Legasthenie betroffen ist, kann uns nicht verstehen“. Darum sollten wir uns auf unsere Stärken besinnen und nicht auf unsere Schwächen, denn die gilt es zu bewältigen! Wir werden die Schwierigkeiten nur in den Griff bekommen, wenn wir uns keine medizinische Störung einreden lassen.