Der Begriff „Störung“ bei Lese-Rechtschreib-Schwächen bedeutet Verletzung der Menschenwürde
Wir erleben es in der Praxis in Gesprächen mit Eltern und Betroffenen, dass die Ansichten darüber auseinandergehen, ob die Legasthenie eine Störung ist und die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) als vorübergehende bzw. erworbene Schwäche zu verstehen ist. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es unterschiedliche Definitionen und Meinungen. Die klinische Psychologie geht meistens von einer Lese-Rechtschreib-Störung aus, die sich an der ICD-10 (psychische Störungen) orientiert. Pädagogen definieren häufig alle Lese-Rechtschreib-Probleme gleichermaßen als LRS.
Selten erleben wir Familien oder Betroffene, die ihre Lese-Rechtschreib-Probleme als Störung bezeichnen. Häufiger werden diese Schwierigkeiten als Schwäche definiert, eine Darstellung als Störung ist für einen Großteil der Betroffenen befremdlich. Der Bundesverband Legasthenie definiert diese Probleme dagegen als Störung. Diese Sichtweise wird kontrovers diskutiert und nicht von allen Fachleuten geteilt.
Die Fachleute an unserem Institut sind zum Teil selbst Betroffene. Für uns existiert der Begriff „Störung“ nicht – weil wir diese Definition als Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde sehen. Außerdem ist eine Lese-Rechtschreib-Störung ein stigmatisierender Begriff, den man aus Wahrung der Würde der Betroffenen nicht verwenden darf. Diese Begrifflichkeit suggeriert in der Öffentlichkeit eine nicht-bewältigbare Krankheit. Aus der Perspektive der Betroffenen ist dies nicht hilfreich. Viele definieren ihre Problematik als Schwäche, die eben als unterscheidendes Persönlichkeitsmerkmal zu uns Betroffenen dazu gehört.
Seelische Erkrankungen können sekundäre Folgen einer nicht bewältigten Lese-Rechtschreib-Schwäche sein – erst durch die Nicht-Bewältigung können sich diese Lernprobleme bei normaler Intelligenz zu Störungen der Persönlichkeit entwickeln. Es ist strittig, dass normale Kinder eine Störung haben, bevor sie die Schule absolviert haben. Vermutlich entstehen psychosomatische Probleme bei Legasthenikern dadurch, dass sie negative Erfahrungen in der Schule sammeln und die Eltern aus Unwissenheit nicht adäquat mit den Lernproblemen ihrer Kinder umgehen können. Unsere Annahme ist: Wenn Kinder eine frühe Förderung und Hilfe zur Bewältigung ihrer Schwäche erfahren, werden sie sich zu seelisch stabilen Kindern entwickeln können. Das bezeichnet man auch als Resilienz. Diese Betroffenen entwickeln weniger seelische Erkrankungen und können an ihren Problemen wachsen. Solche Fälle beobachten wir in unserer Arbeit. Darum ist der Begriff „Störung“ unpassend. Richtig ist, dass erwachsene Legastheniker ohne eine frühe adäquate Förderung und Kompensation der Schwäche sekundäre Erkrankungen entwickeln können – dies betrifft aber nicht alle Betroffene. Darum braucht es bei der Beurteilung von Betroffenen mehr Differenzierung.
Richtig ist, es gibt unterschiedliche Ursachen für Lese-Rechtschreib-Probleme. Einerseits gibt es Schwächen, die erworben werden können (LRS). Andererseits gibt es Schwächen, die gehäufter in den Familien über Generationen auftreten können. Dann spricht man von einer speziellen Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie). Viele Ursachen dafür sind bis heute nicht vollständig erforscht, wir nehmen an, dass die Umweltprobleme in der Familie und im Bildungswesen für den Verlauf der Schwäche einen entscheidenden Einfluss haben können. Je besser die Lern- und sozialen Lebensbedingungen sind, desto leichter lassen sich die Probleme bewältigen. Da die Lebensbedingungen der Betroffenen unterschiedlich sind, müssen die Verläufe dieser Schwierigkeiten verschieden sein. Ähnlich beobachten wir die biografischen Entwicklungen in unserer Arbeit.
Unsere Meinung ist: Unsere Umwelt macht die Betroffenen zu gestörten Persönlichkeiten. Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche ist eine Schwäche, die durch frühe Förderdiagnose und präventive Förderung gut bewältigt werden kann, wenn die Betroffenen diese Hilfe so früh wie möglich erhalten. Hierbei spielt nach unseren Erfahrungen der soziale Status der Betroffenen eine maßgebliche Rolle, inwiefern Betroffene unbeschadet ihre Probleme bewältigen werden.
Fazit:
Es gibt unterschiedliche Lese-Rechtschreib-Probleme bei Betroffenen, zum einen können diese erworben sein und andere können von familiären Anlagen dazu herrühren. Ob und wie die Lernprobleme bewältigt und kompensiert werden können, hängt vermutlich von den Umweltbedingungen in den Familien und im Bildungswesen sowie maßgeblich vom sozialökonomischen Status ab. Wir beobachten bei unserer Arbeit, dass diese Faktoren in ihrem Zusammenhang eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Problematik der Betroffenen spielen. Aus ethischer Sicht sollte der Begriff „Schwäche“ verwendet werden und nicht der Begriff „Störung“ kommuniziert werden.