Wie sage ich es meinen Mitmenschen, dass ich Legastheniker bin?

Es ist eine gute Frage, wie man es anderen Leuten sagt, dass man von einer Legasthenie betroffen ist. Oft hängt es vom Selbstbewusstsein der Betroffenen ab, wie sie zu ihrer Schwäche stehen, oder ob sie sie verheimlichen.

Viele legasthene Erwachsene können mit ihrer Problematik nicht offen umgehen, da sie das nicht erlernt haben. In unserer Leistungsgesellschaft ist es für viele Menschen peinlich, wenn sie im Vergleich zu anderen eine Schwäche beim Lesen und Schreiben haben. Vorgesetzte und Kollegen und oft auch die eigenen Familienangehörigen verstehen uns nicht immer. Das passiert auch denjenigen Eltern, die selbst von einer Legasthenie betroffen sind. Sie haben in der eigenen Kindheit nicht gelernt, mit ihren Lernschwierigkeiten gut umzugehen. Deshalb wollen sie sich oft nicht eingestehen, dass sie die gleichen Schwierigkeiten wie ihre Kinder hatten. Die Probleme können noch sehr viel komplexer sein, aber wir wollen jetzt nicht ausschweifen.

Erfahrungsgemäß gibt es kein Patentrezept, wie Erwachsene zu ihrer speziellen Lese-Rechtschreib-Schwäche stehen können. Das hängt von ihrer individuellen Persönlichkeit ab, speziell an ihren Erfahrungen in der eigenen Kindheit. Wenn diese negativ waren, kann es auch für die Erwachsenen sehr schwer werden. Andererseits können sie in der Kindheit viel Liebe und Halt erfahren haben, weshalb sie einen selbstbewussteren Umgang mit der Schwäche erlernten. Ein gutes Selbstbewusstsein und ein gesundes Selbstbild sind wichtig für den offenen Umgang der Betroffenen mit ihrer Legasthenie. Manchen hilft auch ein professionelles Coaching, aber bei starken Problemen mit dem Selbstwert braucht es eine gute Verhaltenstherapie bei einem Psychotherapeuten. Diese Hilfen können eine wertvolle Stütze für die Betroffenen sein. Eine stabile psychische Gesundheit ist die beste Grundlage für den offenen Umgang mit der Legasthenie.

Dann kann man den anderen sagen: Ja, ich bin Legastheniker! Für manche Betroffene ist es eine wertvolle Erfahrung, diesen Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Andere fühlen sich unsicher, denn was könnten die anderen über mich denken? Häufig müssen Legastheniker den Nichtbetroffenen die Schwierigkeiten erst einmal genauer erklären. Es ist eine Schwäche, mit der man heutzutage im Leben gut zurechtkommen kann. Es ist weder eine Krankheit noch eine Behinderung. Viele Menschen wissen zu wenig darüber, deshalb braucht es immer wieder Aufklärung zur Thematik und den einzelnen Problemen der Legasthenie. Einerseits zeigt sich diese Schwäche bei den einzelnen Betroffenen in verschiedenen Symptomen und Ausprägungen. Andererseits wurde dieses Thema in der Vergangenheit in den Medien sehr einseitig dargestellt, indem man Lese-Rechtschreib-Schwächen als Störung oder Krankheit kommuniziert hat. Legastheniker können psychisch krank werden, denn einzelne Betroffene erlitten in ihrer Kindheit und Jugend schwere psychische Schäden, die sich dann zu seelischen Nebenerkrankungen entwickeln konnten. Aber das betrifft eben nicht alle. Hier braucht es auch eine klarere Unterscheidung in der Fachwelt und Öffentlichkeit. Es braucht hier eine individuellere Differenzierung der Ursachen und eine bessere Kategorisierung der unterschiedlichen Lernschwächen beim Lesen und Schreiben – LRS und Legasthenie.

Wenn es in der Fachwelt wie in der Öffentlichkeit mehr Klarheit und Offenheit für dieses Thema gäbe, könnten die Betroffenen offener im Umgang mit ihren Schwächen sein. Es ist heute für sie noch sehr mühsam, sich zu offenbaren, obwohl sie weder krank noch behindert sind. Trotzdem sollten die Betroffenen den Mut haben, offen über ihre Legasthenie zu sprechen. Denn das wird vielen von ihnen guttun. Auch beim Arbeitgeber sollte man das Thema ansprechen, solange nicht die Gefahr besteht gemobbt zu werden. Auf jeden Fall ist es gut, sich dafür fachmännischen Rat einzuholen.

 

Ist eine Legasthenie heilbar?

 Ist eine Legasthenie heilbar? In der Fachwelt und in der Öffentlichkeit wird häufig die Frage diskutiert, ob die Legasthenie als spezielle veranlagte Lese-Rechtschreib-Schwäche heilbar ist. Dazu gibt es eine klare Antwort: NEIN! Aber sie ist mit verschiedenen Hilfsmitteln bzw. einer intensiven Lerntherapie und entsprechendem Training gut zu kompensieren. Daraus ergibt sich eine andere und bessere Fragestellung: Wie kann man die Legasthenie bewältigen, dass sie nicht zu einer seelischen Behinderung wird und dass die Betroffenen entsprechend ihrer Ressourcen in die Gesellschaft integriert werden?

Die Legasthenie ist eine kompensierbare Schwäche. Dieser Aussage können wir sowohl aus der fachlichen als auch aus der persönlichen Perspektive der Betroffenen eindeutig zustimmen. Andererseits ist es wichtig, diese Schwäche als einen normalen Zustand des Lebens anzunehmen. Legastheniker können in nichtsprachlichen Bereichen vielfältige und gute Begabungen haben, aber sie sind von Natur aus schriftsprachlich nicht talentiert. Sie werden keine Sprachwissenschaftler werden, aber vielleicht werden sie gute Ingenieure, Lehrer, Erzieher, Tischler oder Wissenschaftler auf anderen Gebieten. Nicht die Heilung der Legasthenie sollte im Mittelpunkt stehen – das ist verlorene Liebesmüh –, sondern die Kompensation ihrer Schwäche steht für die Betroffenen im Zentrum aller Bemühungen.

In der Fachwelt wird oft argumentiert, dass die Legasthenie eine Krankheit sei, weil sie im Manual der ICD-10 als psychisches Störbild aufgelistet wird. Das liegt vordergründig an der Forschungsgeschichte der Legasthenie, die mehrheitlich medizinisch und nicht fachübergreifend war. Es ist ein sehr umstrittenes Thema, ob man die Legasthenie als Krankheit oder Behinderung auffasst. Da es ja Therapien gibt, wird oft ohne weitere Vorkenntnisse angenommen, dass die Legasthenie heilbar ist. Doch das ist falsch. Bisher gibt es nur verschiedene Methoden, diese Schwierigkeiten zu kompensieren. Diese sind von Fall zu Fall unterschiedlich, da sich die Legasthenie bei den Betroffenen in verschiedenen Symptomen ausdrückt. Wird die Legasthenie nicht in der Kindheit erkannt und durch gezielte Förderung und Lerntherapie ausgeglichen, besteht eine reelle Gefahr, dass die Betroffenen zusätzliche seelische Probleme entwickeln. Diese führen dann zu stärkeren seelischen Belastungen und in manchen Fällen können auch chronische psychische Erkrankungen wie Depression oder Burn-out auftreten.

 

Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles Fachwissen

Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles FachwissenManche Erwachsene mit einer Legasthenie verfügen über ein hohes Domänenwissen, d.h. sie zeichnen sich durch besonders gute Kenntnisse und Fertigkeiten auf ihrem Fachgebiet aus. Deshalb können sie auch zur intellektuellen Elite ihres Fachbereichs gehören. Das ist vielleicht nicht die Mehrheit der betroffenen Erwachsenen, aber in unserer praktischen Arbeit sind uns einige begegnet.

Eine ganze Reihe der Betroffenen verfügt über eine Intelligenz im oberen Durchschnittsbereich. Deshalb können diese Legastheniker ungeachtet ihrer Schwächen in der Schriftsprache gute Fähigkeiten auf anderen Gebieten entwickeln, sofern sie ihre Schwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter kompensiert haben. Legastheniker, die ihre seelischen Komplexe der Kindheit bzw. negativen schulischen Erfahrungen nicht aufgearbeitet haben, sind selten in der Lage ihr Leben gut zu meistern. Nur eine Aufarbeitung und Bewältigung (Kompensation) der Legasthenie bietet gute Chancen sich auf ihrem Fachgebiet erfolgreich zu spezialisieren.

Manche Betroffene entwickeln ein Interesse an Spezialthemen, denn abstraktes und vielschichtiges Denken fällt legasthenen Menschen oft nicht schwer. Sie müssen deshalb nicht automatisch hochbegabte Genies sein, aber es gibt auch diese. Legastheniker können Spezialisten auf unterschiedlichen Fachgebieten sein, wie zum Beispiel begabte Handwerker oder promovierte Chemiker. Die Betroffenen haben natürlich verschiedene individuelle Begabungen. Außerdem werden sie durch ihre soziale Herkunft und die erlebte soziale Umwelt in Familie und Schule unterschiedlich unterstützt. Positive Umweltfaktoren sind ein wichtiger Punkt für eine optimale Entwicklung der Betroffenen, da sie einen wichtiger Schutzfaktor gegenüber sekundären seelischen Erkrankungen darstellen. Denn eine Legasthenie bedeutet nicht automatisch eine psychische Behinderung oder Krankheit.

Wenn Legastheniker frühzeitig eine umfassende Unterstützung erhalten, müssen sie im Erwachsenenalter nicht mehr so viel Kraft für die Kompensation der Legasthenie aufwenden. Sie haben damit mehr Freiräume, um sich auf Gebieten zu spezialisieren, in denen ihre Stärken liegen. Damit können sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten und Begabungen entfalten. So bestehen gute Chancen, dass sie vielfältiges Wissen auf ihrem Fachgebiet erwerben und im beruflichen Kontext anwenden können. Diese Fähigkeiten werden in der Wissensgesellschaft unserer Zeit immer wichtiger. Das bietet vielen Betroffenen eine gute berufliche Perspektive. Es stärkt ihre Identität und hilft zusätzlich bei der Bewältigung der Legasthenie.

Ein Beispiel: Wie ein Schüler ohne LRS-Klasse erfolgreich das Gymnasium schafft

Förderung ohne LRS-Klasse

Heute hatten wir eine bewegende Verabschiedung eines Schützlings. Dieser Schüler kam vor 3 Jahren zur lerntherapeutischen Einzelförderung. Die Eltern entschieden sich gegen eine LRS-Klasse, weil sie dem Jungen eine bestmögliche und umfassende Förderung seiner Persönlichkeit angedeihen lassen wollten. Der Vater des Kindes ist eine Führungskraft und selbst Legastheniker. Wir können uns noch sehr genau an unser Erstgespräch erinnern. Die Handschrift des Vaters mit akademischem Abschluss. Er brach kurz in Tränen aus, als wir ihn darauf ansprachen. Er bestätigte, dass er Legastheniker ist und ähnliche Schwierigkeiten wie sein Sohn hatte. Durch seine Erfahrung in der Kindheit war ihm klar war, dass er niemals sein Kind in einer LRS-Klasse separieren würde.

Sein Wunsch war es, dass seine Sohn trotz der Legasthenie einen ähnlichen Weg gehen kann. Unsere Prognose war, dass er den Weg auf ein Gymnasium schaffen kann. Mit unserer Hilfe schafft er auf dem Zeugnis der 6. Klasse eine gute Zwei in Deutsch. Der Schüler geht aber auf ein recht anspruchsvolles Gymnasium im Umland von Dresden. Dort ist es relativ schwer gute Noten zu schreiben. Uns machen solche kleinen Gesten glücklich! Sie motivieren uns, weiter in den Diensten legasthener und dyskalkuler Menschen zu arbeiten.