Legasthenie und ihre psychischen Folgen

Seit vielen Jahren diskutieren wir in der Fachwelt, ob eine Legasthenie psychische Folgen haben kann. Sicher ist, dass eine Legasthenie mit seelischen Belastungen verbunden ist. Wenn diese Schwierigkeiten nicht in der frühen Kindheit erkannt werden, können sich daraus bis ins Erwachsenenalter hinein schwerwiegende Folgen ergeben.

Aber nicht alle Legastheniker sind von psychischen Problemen betroffen. Dies wird aber erst dann erkennbar, wenn man sich die Lebensgeschichte, den schulischen Werdegang und den familiären Hintergrund genauer betrachtet.

Heutzutage geht man in der Öffentlichkeit viel offener mit Depressionen um. Diese Diskussion sollte auch in unserer Fachwelt, die sich speziell mit Lernschwierigkeiten beschäftigt, geführt werden. Es ist notwendig zu differenzieren, inwieweit eine Legasthenie mit sekundären psychischen Erkrankungen zusammenhängt. Einerseits beobachten wir Familien, in denen seelische Belastungen im Erwachsenenalter zusammen mit einer Legasthenie auftreten. Das muss aber nicht immer der Fall sein.

Die psychiatrische Forschung zeigt, dass viele psychische Belastungen bereits in der frühen Kindheit angelegt sind. Auch eine Legasthenie, die nicht früh genug erkannt wird, kann zu einer psychischen Erkrankung führen. Das ist aber nicht bei allen Betroffenen der Fall. Deshalb ist die Vorstellung, Legastheniker seien psychisch erkrankt oder gar behindert, unserer Erfahrung nach eine zu pauschale These.

Wenn die individuelle Entwicklungsgeschichte der Betroffenen verstanden wird, bestehen gute Chancen, geistige Behinderungen zu verhindern. In der Fachwelt gibt es da noch viel Diskussionsbedarf, denn die bisherigen Ansätze sind recht undifferenziert. Es ist notwendig, offen über die seelischen Belastungen der Betroffenen zu sprechen, ohne sie zu stigmatisieren. Die heutige junge Generation geht viel offener mit ihren psychischen Problemen um.

In unseren Interviews wurde deutlich, dass sich viele erwachsene Betroffene in psychologischer Behandlung befanden oder noch befinden. Oft ging es dabei um Depressionen, Ängste, Anpassungsstörungen und manchmal auch um schwerwiegendere Persönlichkeitsstörungen, die ihre Wurzeln in der Kindheit haben. Diese seelischen Probleme können zur Legasthenie hinzukommen. Was diese Störungen auslöst, ist meist unklar, aber unserer Meinung nach ist die Legasthenie nicht daran schuld. Wenn wir das soziale Umfeld und die Lebensgeschichten der Betroffenen richtig verstehen, sind ungünstige familiäre und schulische Bedingungen ein wichtiger Faktor. Die These,  Legastheniker würden stärker zu psychischen Problemen neigen, ist sehr umstritten. Nach unseren Erkenntnissen ist es vor allem das soziale Umfeld, das psychische Probleme begünstigt.

Wir Betroffenen sollten lernen, über mögliche psychische Probleme im Zusammenhang mit einer Legasthenie zu sprechen. Aber nicht jeder Legastheniker ist gleich, denn jeder hat eine andere Lebensgeschichte und verarbeitet seine Schwäche anders.

 

Berufsberatung bei Legasthenie und LRS

Viele junge Erwachsene mit Legasthenie bzw. einer Lese-Rechtschreib-Schwäche stehen bei der Berufswahl vor einer großen Hürde. Wir haben in den letzten Jahren einige Erfahrungen gesammelt, welche Herausforderungen dabei auftreten können.

Zuerst mussten wir feststellen, dass sich die Anlaufstellen für die Berufsberatung nur selten mit dem Thema „Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten und Berufswahl“ auskennen. Entsprechend kompliziert ist für viele eine kompetente Einschätzung und Beratung, welche Berufe für Erwachsene mit LRS oder Legasthenie geeignet sind. Diese Probleme haben wir bei den IHKs und HWKs, den Hochschulen und Universitäten, aber auch bei der Agentur für Arbeit und den Jobcentern beobachtet.

Da die schulischen und familiären Hintergründe der Betroffenen vielfältig sind, sind auch die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Berufswahl sehr unterschiedlich. Die berufliche Integration über die Arbeitsagentur bzw. das Sozialamt ist nicht selten mit großen Hürden verknüpft. Sozial schwächeren Betroffenen fällt es besonders schwer, eine maßgeschneiderte berufliche Integration zu erhalten. Die Beratungsstellen kennen sich zu wenig mit dieser Thematik aus. Deshalb laufen viele Integrationsmaßnahmen ins Leere und es droht Langzeitarbeitslosigkeit.

Wenn Legastheniker ihre Schwierigkeiten nicht bewältigt haben, wird ihre berufliche Integration mit zunehmendem Alter immer komplexer, da bei ihnen oft noch andere sekundäre Erkrankungen psychischer Natur hinzukommen. Leider stehen dann meistens die seelischen Belastungen im Fokus und die Legasthenie wird zu wenig berücksichtigt. Die schrittweise Bewältigung der Legasthenie kann in der Regel dabei helfen, die psychischen Erkrankungen aufzuarbeiten, wenn man sie richtig einzuordnen weiß. Dann besteht eine gute Chance, diese Probleme erfolgreich zu bewältigen. Leider kennen sich viele Behörden im Bereich berufliche Integration damit nicht aus. Auch Berufsbildungs- und -förderungswerke bzw. ähnliche Institutionen im Bereich der beruflichen Rehabilitation sind oft mit dieser Thematik überfordert.

Bei Betroffenen ohne seelische Belastungen ist die berufliche Integration häufig um vieles einfacher. Aber auch da haben wir unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Wir empfehlen jedem Betroffenen deshalb eine spezialisierte Berufsberatung.

In der Arbeitswelt geht man heute zumeist offener mit der Problematik Legasthenie und LRS um, auch wenn sich das von Branche zu Branche unterscheidet. Trotzdem sind die allgemeinen beruflichen Chancen der Betroffenen heute besser als noch vor 10 bis 15 Jahren.

Betrifft die Corona-Krise auch Kinder mit LRS?

Seit einiger Zeit wird in Fachkreisen darüber diskutiert, inwiefern Kinder in den Jahren der COVID19-Pandemie psychische Krisen erlebt haben. Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Für uns stellt sich insbesondere die Frage, ob auch Kinder mit LRS oder Legasthenie davon betroffen sind. Allgemein haben sich die seelischen Probleme von Kindern in den letzten Jahren verstärkt. Laut der COPSY-Studie der Gesundheitsforscherin Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer (Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf) ist der Anteil der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen von 18 auf 31 Prozent angestiegen.

Bei allem Verständnis für die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID19-Pandemie muss hier von einer multikomplexen Situation der Entwicklung von psychischen Problemen bei Kindern ausgegangen werden. Kinder wachsen in unterschiedlichen sozial-familiären Verhältnissen auf, manche erleben stabile, manche weniger stabile oder gar instabile Verhältnisse. Geht man allgemein davon aus, dass durch die Corona-Maßnahmen deutlich mehr Kinder psychische Probleme entwickelt haben, liegt der Schluss nahe, dass Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten aufgrund ihrer Neigung zur Entwicklung psychischer Probleme deutlich stärker gefährdet sind. LRS kann auch ein soziales Problem darstellen. Wir gehen daher davon aus, dass die betroffenen Kinder zu den am meisten benachteiligten Gruppen in dieser Krise gehören. Welche Erklärungen gibt es dafür? Der Wechselunterricht wirkte sich besonders verheerend auf lernschwache Kinder und Jugendliche aus, da gerade sie eine klare Struktur im schulischen Alltag benötigen. Auch die lange Isolation von Gleichaltrigen war ungünstig für Kinder, die oft auch mit Versagensängsten und Selbstwert-Problemen zu kämpfen haben.

Sicherlich gibt es Kinder, die vom Homeschooling profitiert haben. Dies ist eher bei Schülern der weiterführenden Schulen der Fall, die bereits in der Lage sind, selbständiger zu lernen. Dagegen war die Situation des Wechselunterrichts für die Grundschüler nicht so gut. Deshalb entwickelten sie häufiger Probleme mit Ängsten, geringem Selbstwertgefühl und fehlender Motivation, woraus auch Depressionen und Anpassungsstörungen entstehen können. Langfristig ist davon auszugehen, dass Kinder mit LRS als Folge dieser Krise psychische Probleme entwickeln. Dabei ist zu beachten, dass Kinder mit einem stabilen familiären Umfeld diese Probleme besser kompensieren können als andere. Etwa 25 Prozent der Kinder wachsen in schwierigen Familienverhältnissen auf. Hier können sich die Probleme der vergangenen Jahre zu andauernden psychischen Schwierigkeiten entwickeln, wenn sie keine angemessene Hilfe erhalten. Leider ist die soziale Dimension der LRS in der Forschung bisher nur wenig berücksichtigt worden. Hier sollten die Lernschwierigkeiten mehr in LRS (erworben) und Legasthenie (vererbt) differenziert werden.

Es gibt Lese-Rechtschreib-Schwächen, die aufgrund ungünstiger Umweltfaktoren erworben wurden. Die Krise der letzten Jahre verdeutlicht die notwendige Differenzierung dieser Schwächen. Wir werden deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit großen Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb haben, in deren Familien diese Probleme vorher nicht auftraten. In den kommenden Jahren werden wir sehen, wie stark sich die Krise der Kinderseelen auf unser Arbeitsfeld auswirken wird. Derzeit sehen wir bei den betroffenen Kindern deutlichere Defizite als vor der Krise. Diese Kinder schneiden beim Lesen und Schreiben schwächer ab, sie haben häufiger Konzentrationsprobleme ähnlich wie bei ADS und ADHS, sie sind ängstlicher und haben deutliche . Hier sehen wir eine starke Tendenz zum Schlechteren. Unsere Einschätzungen können wir noch nicht verallgemeinern. Weitere Aussagen muss die Forschung der kommenden Jahre liefern.

Können sich LRS-Klassen ungünstig auf die seelische Gesundheit der Kinder auswirken?

Bei unserer Arbeit werden wir immer wieder gefragt, wie sich die LRS-Klassen langfristig auf die Kinder auswirken. Diese Sonderklassen für Kinder mit unterschiedlichen Lese- und Rechtschreibproblemen sind in der Fachwelt umstritten, wie wir hier bereits mehrfach erläutert haben. In einzelnen Fällen beobachteten wir in unseren Interviews, dass Betroffene dabei seelische Wunden davongetragen haben.

Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, inwieweit sich der Besuch der LRS-Klasse ungünstig auf die psychische Verfassung der Kinder mit Legasthenie / LRS auswirkt. Ein Punkt ist dabei die familiäre Situation, in der das Kind aufwächst. Die Herausnahme des Kindes aus der vertrauten Lernumgebung der Heimatschule kann sich auch auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirken. In diesem Alter verstehen die Kinder noch nicht, was der Besuch einer Förderschule bedeutet. Diese frühen Separationserfahrungen können sich ungünstig auf die seelische Gesundheit auswirken. Ein weiterer Faktor ist das schulische Umfeld. Viele Familien beschreiben, dass diese Förderschulen ein Sammelpunkt von sozialen Problemen sind, denn bei vielen Betroffenen ist das familiäre Umfeld nicht intakt. Auch in Sprachheilschulen spielen soziale Probleme oft eine große Rolle. Ähnliches wird uns auch aus den LRS-Klassen berichtet, in denen das Sozialverhalten der Kinder ebenfalls auffällig ist.

Dies ist meistens auf schwierige familiäre Verhältnisse zurückzuführen, die einen ungünstigen Verlauf der Lese-Rechtschreib-Probleme fördern können. Kinder, die ein solch raues soziales Umfeld nicht gewohnt sind, kommen in diesen Förderschulen weniger gut zurecht, was sich letztlich negativ auf ihre seelische Entwicklung auswirken kann.

Die LRS-Klassen sind dabei recht unterschiedlich und es fällt den Betroffenen oft schwer, sie objektiv zu beurteilen. Viele Betroffene haben uns berichtet, dass sich das soziale Umfeld in diesen Förderschulen ungünstig auf ihre Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinein ausgewirkt hat. Denn sie haben diese Beschulung als Demütigung erlebt. Andere Betroffene berichteten dagegen begeistert von ihrer LRS-Klasse. So unterschiedlich können die dabei gemachten Erfahrungen sein.

Die Eltern sind selten in der Lage, die Gefühlswelt ihrer Kinder richtig einschätzen, um zu beurteilen, wie sich die Beschulung in einer LRS-Klasse auf die emotionale Entwicklung der Kinder auswirken wird. Dies erschwert die Entscheidung für oder gegen eine LRS-Klasse. Selten haben Eltern dabei die emotionale Entwicklung ihrer Kinder im Blick. Eine LRS-Klasse mag von viele Eltern als Entlastung wahrgenommen werden. Das ist verständlich, denn viele Eltern sind mit den Problemen ihrer Kinder überfordert. Oft liegt das daran, dass sie in ihrer Kindheit Ähnliches erlebt haben. Davon berichteten uns einige Eltern.

Oft kommt es auch zu familiären Problemen, besonders wenn die Familienstruktur instabil ist.Auch diese Umweltprobleme sammeln sich in solchen Schulen wie in Schulen mit Schwerpunkt Verhalten oder Lernen bzw. in Sprachheilschulen. Diese Förderschulen können psycho-soziale Probleme bei Kindern zusätzlich begünstigen. Auch diese Faktoren sollten von den Fachleuten berücksichtigt werden.

Da die Zahl der Schüler mit Lernschwierigkeiten schon vor der Corona-Krise anstieg, haben die LRS-Stützpunkte nicht genug Zeit, um die Entwicklung der Kinder im Einzelfall genauer zu betrachten. Oft werden nur die schweren Fälle in eine LRS-Klasse aufgenommen. Die Ursachen für diese Schwierigkeiten werden dabei selten berücksichtigt. Das stellt keine gute Basis für eine umfassende und differenzierte Förderung dar.

In einigen Fällen werden Schüler bei den LRS-Feststellungsverfahren nicht richtig eingeschätzt. Unserer Erfahrung nach wird die seelische Entwicklung der Kinder bei den LRS-Stützpunkten vernachlässigt, obwohl ihrer psychischen Stabilität bei der Beurteilung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Denn sie ist die wichtigste Grundlage, um mögliche Schwierigkeiten in der Grundschulzeit gut bewältigen zu können. Erlebt ein Kind eine psychisch instabile Kindheit, die durch die eigene Familie oder das Lernumfeld verursacht wird, wirkt sich dies ungünstig auf seine weitere seelische Entwicklung aus. Die Beschulung in einer LRS-Klasse kann unter Umständen solche negativen Entwicklungen fördern. Deshalb ist dies ein wichtiges Kriterium, ob sich Eltern für oder gegen eine LRS-Klasse entscheiden. Oder sie entscheiden sich für den alternativen Weg einer Einzeltherapie.

Eltern sollten eine zweite Meinung von Fachleuten einholen, wenn sie sich in ihrer Entscheidung unsicher sind. Manchmal ist auch eine spezialisierte Diagnostik in einem Sozialpädiatrischen Zentrum sinnvoll. Hier können Kinderärzte und Psychologen die seelische Entwicklung der Kinder genauer begutachten. Diese Einschätzung ist oft zuverlässiger als die der LRS-Stützpunkte.