Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles Fachwissen

Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles FachwissenManche Erwachsene mit einer Legasthenie verfügen über ein hohes Domänenwissen, d.h. sie zeichnen sich durch besonders gute Kenntnisse und Fertigkeiten auf ihrem Fachgebiet aus. Deshalb können sie auch zur intellektuellen Elite ihres Fachbereichs gehören. Das ist vielleicht nicht die Mehrheit der betroffenen Erwachsenen, aber in unserer praktischen Arbeit sind uns einige begegnet.

Eine ganze Reihe der Betroffenen verfügt über eine Intelligenz im oberen Durchschnittsbereich. Deshalb können diese Legastheniker ungeachtet ihrer Schwächen in der Schriftsprache gute Fähigkeiten auf anderen Gebieten entwickeln, sofern sie ihre Schwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter kompensiert haben. Legastheniker, die ihre seelischen Komplexe der Kindheit bzw. negativen schulischen Erfahrungen nicht aufgearbeitet haben, sind selten in der Lage ihr Leben gut zu meistern. Nur eine Aufarbeitung und Bewältigung (Kompensation) der Legasthenie bietet gute Chancen sich auf ihrem Fachgebiet erfolgreich zu spezialisieren.

Manche Betroffene entwickeln ein Interesse an Spezialthemen, denn abstraktes und vielschichtiges Denken fällt legasthenen Menschen oft nicht schwer. Sie müssen deshalb nicht automatisch hochbegabte Genies sein, aber es gibt auch diese. Legastheniker können Spezialisten auf unterschiedlichen Fachgebieten sein, wie zum Beispiel begabte Handwerker oder promovierte Chemiker. Die Betroffenen haben natürlich verschiedene individuelle Begabungen. Außerdem werden sie durch ihre soziale Herkunft und die erlebte soziale Umwelt in Familie und Schule unterschiedlich unterstützt. Positive Umweltfaktoren sind ein wichtiger Punkt für eine optimale Entwicklung der Betroffenen, da sie einen wichtiger Schutzfaktor gegenüber sekundären seelischen Erkrankungen darstellen. Denn eine Legasthenie bedeutet nicht automatisch eine psychische Behinderung oder Krankheit.

Wenn Legastheniker frühzeitig eine umfassende Unterstützung erhalten, müssen sie im Erwachsenenalter nicht mehr so viel Kraft für die Kompensation der Legasthenie aufwenden. Sie haben damit mehr Freiräume, um sich auf Gebieten zu spezialisieren, in denen ihre Stärken liegen. Damit können sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten und Begabungen entfalten. So bestehen gute Chancen, dass sie vielfältiges Wissen auf ihrem Fachgebiet erwerben und im beruflichen Kontext anwenden können. Diese Fähigkeiten werden in der Wissensgesellschaft unserer Zeit immer wichtiger. Das bietet vielen Betroffenen eine gute berufliche Perspektive. Es stärkt ihre Identität und hilft zusätzlich bei der Bewältigung der Legasthenie.

Niedriger Kenntnisstand bei Lehrern zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche

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In der Fachwelt und bei betroffenen Eltern wird schon seit vielen Jahren über den niedrigen Kenntnisstand zum Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) diskutiert. Im Jahr 2011 berichteten wir darüber (Lehmann, 2011), dass der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (Tutmann, 2011) und eine Online-Umfrage der LegaKids-Stiftung (LegaKids-Stiftung, 2010) von einem sehr niedrigen Kenntnisstand der Lehrer über das Thema LRS und Legasthenie ausging. Damals bestätigte die Online-Umfrage der LegaKids-Stiftung aus München, dass über 60 Prozent der Deutschlehrer während ihres Studiums keine Fachkenntnisse über die Lese-Rechtschreib-Problematik erworben hätten.

Diese Zahlen erschienen uns damals sehr hoch. In den letzten 3 Jahren haben wir in einer Stichprobe betroffene Eltern zur Einschätzung des Informationsstands beim Thema LRS befragt. Diese nicht repräsentative Stichprobe scheint die damaligen Studien nochmals zu bestätigen. Wir befragten 89 Elternteile, wie sie den Informationstand der Lehrer zum Thema LRS einschätzen. 5 Personen antworteten mit sehr umfangreich, 11 mit umfangreich, 33 mit teils-teils. 20 Personen schätzten den Informationsstand mit weniger umfangreich ein, 7 mit nicht vorhanden, 13 konnten keine Angaben machen.

Hier zeichnet sich eine Tendenz ab, dass ein recht hoher Lehreranteil von 65-70 Prozent wenig Wissen über das Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche aufweist.

Seit der Online-Befragung sind 9 Jahre vergangen und es hat sich am Informationstand der Lehrer zum Thema LRS nicht viel getan. Wir beobachten schon seit der Gründung unseres Instituts 2010, dass die Lehrer häufig bemüht sind, aber wenig über die Ursachen und Auswirkungen von Lese-Rechtschreib-Schwächen wissen. Auch eine Unterscheidung der verschiedenen Schwächen findet nicht statt, wie erst kürzlich im MDR-Exakt-Bericht „Lesen und Schreiben – ungenügend“ deutlich wurde (Lehmann, 2019). Selbst spezialisierte LRS-Lehrer in LRS-Klassen haben wenig differenziertes Wissen. Es ist davon auszugehen, dass der Aufklärungsgrad bei Pädagogen gering sein muss. LRS-Lehrer an normalen Schulen, so berichten es uns Eltern, haben zwar häufig einen höheren Wissensstand als andere Lehrer – trotzdem ist ihre Qualifizierung nur selten auf dem neusten Stand der Wissenschaft. Denn dann wäre es den Lehrern möglich, LRS und Legasthenie besser zu unterscheiden. Die betroffenen Schüler könnten besser integriert werden. Auffällige Kinder werden von Lehrern gern auf eine LRS-Klasse geschickt, weil sie häufig mit LRS-Kindern überfordert sind. Im sächsischen Bildungswesen wird Inklusion bildungspolitisch großgeschrieben. Die integrative Unterrichtung von Schülern mit LRS in ihrer Heimatgrundschule sollte normalerweise kein Problem bedeuten. Lehrer scheuen sich häufig vor dem Mehraufwand, den Kinder mit Lernschwächen beim Lesen und Schreiben haben. Deswegen sind die Schulen häufig enttäuscht, wenn sich die Eltern gegen eine LRS-Klasse entscheiden. Das Thema Inklusion sollte besonders in diesem Bereich überdacht werden. Eine umfassende Lehrerfortbildung, die sich nicht am Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie orientiert, wäre notwendig. Denn dieser  macht sich für eine Anerkennung der Lernschwächen als seelische Behinderung oder Krankheit stark, die bisher nicht belegt ist und nicht auf alle betroffenen Schüler zutrifft.

Nach unserer Einschätzung ist langfristig nicht zu erwarten, dass sich die Situation in unserem Bildungswesen ändern wird.

 

Quellen:

LegaKids-Stiftung. (2010). Lehrerbefragung LRS / „Legasthenie“ im deutschsprachigen Raum. LegaKids Stiftungs–GmbH (gemeinnützig). Zugriff am 15.5.2019. Verfügbar unter: https://www.legakids.net/fileadmin/user_upload/Downloads/Lehrerumfrage_2010/LegaKids_Lehrerumfrage_2010.pdf

Lehmann, L. M. (2011). 60 Prozent der Deutschlehrer haben keine Kenntnisse über Legasthenie und LRS. Dresden: Legasthenie Coaching – Institut für Bildung und Forschung gUG (haftungsbeschränkt). Zugriff am 15.5.2019. Verfügbar unter: https://www.legasthenie-coaching.de/60-prozent-der-deutschlehrer-haben-keine-kenntnisse-uber-legasthenie-und-lrs/

Lehmann, L. M. (2019). Expertenkommentar: Lesen und Schreiben – ungenügend. Legasthenie Coaching – Institut für Bildung und Forschung gUG (haftungsbeschränkt). Zugriff am 15.5.2019. Verfügbar unter: https://www.legasthenie-coaching.de/expertenkommentar-lesen-und-schreiben-ungenuegend/

Tutmann, L. (2011). Legasthenie „Schulen sollten sich ihrer Verantwortung bewusst werden“. Verfügbar unter: https://www.focus.de/familie/lernen/lernstoerungen/schulen-sollten-sich-ihrer-verantwortung-bewusst-werden-legasthenie_id_1953456.html