Corona in der Seele – Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft

In diesem Artikel wollen wir das Buch „Corona in der Seele – Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft“ von Udo Baer und Claus Koch besprechen.

Der Ratgeber erschien 2022 beim Klett-Cotta-Verlag in der 2. Auflage. Er richtet sich an interessierte Fachleute, die mit Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen arbeiten, die mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen haben.

Dieses Sachbuch ist ein wertvoller Ratgeber bei der praktischen Bewältigung der Covid-19-Pandemie, die uns mit ihren Folgen noch einige Jahre beschäftigen wird. Nach einer kurzen Einleitung werden im ersten Kapitel 12 Einzelschicksale von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 3 und 21 Jahren geschildert. Diese Geschichten kommen uns Fachleuten sehr vertraut vor. Es wird von Ängsten, Druck, psychosomatischen Symptomen, Sprachproblemen, Schuldgefühlen und Suizidgedanken berichtet. Viele dieser Berichte erfassen das Geschehen gut, was wir in unserer pädagogisch-psychologischen Arbeit mit Kindern beobachten. Die Berichte sind jeweils in die Teile Verstehen, Erklären und Helfen gegliedert. Für jeden der 12 Fälle gibt es fachliche Erklärungen und Hilfsansätze.

Die weiteren Kapitel enthalten folgende Punkte:

– Kinder sind Beziehungswesen

– Einsamkeit, Ängste und geplatzte Träume

– Spielen vor und nach Corona

– Corona, die Schule und das Virus der Erneuerung

– Warum Gefühle bleiben und wie sich äußern

– Von Troststeinen, kleinen Helden und Wunschpflanzen

– Für ein gutes Leben nach der Pandemie

Gerade der letzte Teil enthält dabei viele wertvolle Tipps für Kinder und Jugendliche.

Aus unserer fachlichen Perspektive erhalten wir mit diesem Sachbuch einen umfassenden und differenzierenden Blick auf die Probleme der Kinder durch die Pandemie und die Bewältigung der dadurch entstandenen Schwierigkeiten, die sich bei jedem Kind individuell ergeben haben. So haben wir es auch bei unserer Arbeit mit Kindern mit LRS und Legasthenie sowie Rechenschwächen (Dyskalkulie) erlebt.

Wir teilen die Sicht der Autoren, dass es sehr wichtig ist, die Folgen der Pandemie in den Kinderseelen zu verstehen. Ärzte, Psychologen, andere Fachleute und die Eltern können viel positives dazu beitragen, dass die entstandenen Probleme wie Ängste, Defizite und Einsamkeit bewältigt werden können.

Dieser Ratgeber ist ein wertvolles Sachbuch für alle, denen die Aufarbeitung und Bewältigung der Corona-Pandemie am Herzen liegt. Die pädagogische und psychologische Sicht ist hierbei sehr hilfreich.

Sie finden das Buch unter diesem Link.

 

 

Legasthenie und ihre psychischen Folgen

Seit vielen Jahren diskutieren wir in der Fachwelt, ob eine Legasthenie psychische Folgen haben kann. Sicher ist, dass eine Legasthenie mit seelischen Belastungen verbunden ist. Wenn diese Schwierigkeiten nicht in der frühen Kindheit erkannt werden, können sich daraus bis ins Erwachsenenalter hinein schwerwiegende Folgen ergeben.

Aber nicht alle Legastheniker sind von psychischen Problemen betroffen. Dies wird aber erst dann erkennbar, wenn man sich die Lebensgeschichte, den schulischen Werdegang und den familiären Hintergrund genauer betrachtet.

Heutzutage geht man in der Öffentlichkeit viel offener mit Depressionen um. Diese Diskussion sollte auch in unserer Fachwelt, die sich speziell mit Lernschwierigkeiten beschäftigt, geführt werden. Es ist notwendig zu differenzieren, inwieweit eine Legasthenie mit sekundären psychischen Erkrankungen zusammenhängt. Einerseits beobachten wir Familien, in denen seelische Belastungen im Erwachsenenalter zusammen mit einer Legasthenie auftreten. Das muss aber nicht immer der Fall sein.

Die psychiatrische Forschung zeigt, dass viele psychische Belastungen bereits in der frühen Kindheit angelegt sind. Auch eine Legasthenie, die nicht früh genug erkannt wird, kann zu einer psychischen Erkrankung führen. Das ist aber nicht bei allen Betroffenen der Fall. Deshalb ist die Vorstellung, Legastheniker seien psychisch erkrankt oder gar behindert, unserer Erfahrung nach eine zu pauschale These.

Wenn die individuelle Entwicklungsgeschichte der Betroffenen verstanden wird, bestehen gute Chancen, geistige Behinderungen zu verhindern. In der Fachwelt gibt es da noch viel Diskussionsbedarf, denn die bisherigen Ansätze sind recht undifferenziert. Es ist notwendig, offen über die seelischen Belastungen der Betroffenen zu sprechen, ohne sie zu stigmatisieren. Die heutige junge Generation geht viel offener mit ihren psychischen Problemen um.

In unseren Interviews wurde deutlich, dass sich viele erwachsene Betroffene in psychologischer Behandlung befanden oder noch befinden. Oft ging es dabei um Depressionen, Ängste, Anpassungsstörungen und manchmal auch um schwerwiegendere Persönlichkeitsstörungen, die ihre Wurzeln in der Kindheit haben. Diese seelischen Probleme können zur Legasthenie hinzukommen. Was diese Störungen auslöst, ist meist unklar, aber unserer Meinung nach ist die Legasthenie nicht daran schuld. Wenn wir das soziale Umfeld und die Lebensgeschichten der Betroffenen richtig verstehen, sind ungünstige familiäre und schulische Bedingungen ein wichtiger Faktor. Die These,  Legastheniker würden stärker zu psychischen Problemen neigen, ist sehr umstritten. Nach unseren Erkenntnissen ist es vor allem das soziale Umfeld, das psychische Probleme begünstigt.

Wir Betroffenen sollten lernen, über mögliche psychische Probleme im Zusammenhang mit einer Legasthenie zu sprechen. Aber nicht jeder Legastheniker ist gleich, denn jeder hat eine andere Lebensgeschichte und verarbeitet seine Schwäche anders.

 

Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles Fachwissen

Erwachsene Legastheniker haben oftmals spezielles FachwissenManche Erwachsene mit einer Legasthenie verfügen über ein hohes Domänenwissen, d.h. sie zeichnen sich durch besonders gute Kenntnisse und Fertigkeiten auf ihrem Fachgebiet aus. Deshalb können sie auch zur intellektuellen Elite ihres Fachbereichs gehören. Das ist vielleicht nicht die Mehrheit der betroffenen Erwachsenen, aber in unserer praktischen Arbeit sind uns einige begegnet.

Eine ganze Reihe der Betroffenen verfügt über eine Intelligenz im oberen Durchschnittsbereich. Deshalb können diese Legastheniker ungeachtet ihrer Schwächen in der Schriftsprache gute Fähigkeiten auf anderen Gebieten entwickeln, sofern sie ihre Schwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter kompensiert haben. Legastheniker, die ihre seelischen Komplexe der Kindheit bzw. negativen schulischen Erfahrungen nicht aufgearbeitet haben, sind selten in der Lage ihr Leben gut zu meistern. Nur eine Aufarbeitung und Bewältigung (Kompensation) der Legasthenie bietet gute Chancen sich auf ihrem Fachgebiet erfolgreich zu spezialisieren.

Manche Betroffene entwickeln ein Interesse an Spezialthemen, denn abstraktes und vielschichtiges Denken fällt legasthenen Menschen oft nicht schwer. Sie müssen deshalb nicht automatisch hochbegabte Genies sein, aber es gibt auch diese. Legastheniker können Spezialisten auf unterschiedlichen Fachgebieten sein, wie zum Beispiel begabte Handwerker oder promovierte Chemiker. Die Betroffenen haben natürlich verschiedene individuelle Begabungen. Außerdem werden sie durch ihre soziale Herkunft und die erlebte soziale Umwelt in Familie und Schule unterschiedlich unterstützt. Positive Umweltfaktoren sind ein wichtiger Punkt für eine optimale Entwicklung der Betroffenen, da sie einen wichtiger Schutzfaktor gegenüber sekundären seelischen Erkrankungen darstellen. Denn eine Legasthenie bedeutet nicht automatisch eine psychische Behinderung oder Krankheit.

Wenn Legastheniker frühzeitig eine umfassende Unterstützung erhalten, müssen sie im Erwachsenenalter nicht mehr so viel Kraft für die Kompensation der Legasthenie aufwenden. Sie haben damit mehr Freiräume, um sich auf Gebieten zu spezialisieren, in denen ihre Stärken liegen. Damit können sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten und Begabungen entfalten. So bestehen gute Chancen, dass sie vielfältiges Wissen auf ihrem Fachgebiet erwerben und im beruflichen Kontext anwenden können. Diese Fähigkeiten werden in der Wissensgesellschaft unserer Zeit immer wichtiger. Das bietet vielen Betroffenen eine gute berufliche Perspektive. Es stärkt ihre Identität und hilft zusätzlich bei der Bewältigung der Legasthenie.

Wie kann man Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen vor seelischen Schäden schützen?

Im November 2020 haben wir uns mit dem Thema beschäftigt, wie man im Erwachsenenalter seelische Wunden der Kindheit aufarbeiten kann. Nun wollen wir der Frage nachgehen, wie sich präventiv vermeiden lässt, dass Kinder mit einer Legasthenie oder LRS zu seelisch verletzten Erwachsenen werden.

Eine Legasthenie kann eine seelische Störung begünstigen. Das wissen wir aus unserer täglichen Arbeit mit Grundschülern bis hin zum Erwachsenenalter. Es liegt nicht nur an der sozialen Herkunft der Betroffenen, sondern vor allem an ihrer Familiensituation. Positive Umweltfaktoren im Familiengefüge können bei legasthenen Kindern zu einem günstigen Verlauf der Bewältigung ihrer Lese-Rechtschreib-Schwäche führen. Dagegen begünstigen negative Faktoren in den Familien mögliche seelische Schäden („Verwundungen der Seele“). Der vom BVL (Bundesverband Legasthenie) vertretenen Definition der Legasthenie als einer psychischen Störung können wir nicht zustimmen, denn sie ist nicht wissenschaftlich belegt. Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche führt nicht automatisch zu seelischen Sekundärerkrankungen. Aber die Lebens- und Lernumwelt kann dazu beitragen, dass Betroffene psychische Probleme bekommen, wenn sie keine frühzeitige Hilfe im Kindesalter erhalten. Diese Hilfe sollte eine frühe Diagnostik und eine individuelle Legasthenie-Therapie beinhalten. Dann bestehen im Regelfall gute Chancen, seelische Verwundungen zu verhindern. Diese Kinder können dabei eine bessere psycho-emotionale Regulierung erlernen, um in ihrem Alltag besser mit Widerständen zurecht zu kommen. Genauer gesagt bedeutet das: Kinder benötigen eine frühe Förderung der Resilienz, um mögliche Verwundungen durch die Umwelt abzuwehren. Diese können sich als Abwertung durch die Lehrer oder auch durch die Eltern äußern, die diese Schwierigkeiten nicht nachvollziehen können.

Diese negativen Faktoren können den Erwerb einer LRS begünstigen bzw. den Verlauf einer veranlagten Legasthenie stark beeinflussen. Hat das etwas mit dem Status als bildungsfern oder bildungsnah zu tun? Sicher ist: Sozial benachteiligte Betroffene werden häufiger auch durch andere Stressoren beeinflusst, die sich auf die seelische Entwicklung der Kinder auswirken können. Das hat auch Auswirkungen auf die schriftsprachliche Entwicklung – dieser Fakt ist in der Fachwelt unumstritten. Nicht alle Lernschwierigkeiten haben ihre Ursache in einer familiären Häufung, sondern sie stehen zum Teil auch im Zusammenhang mit einer ungünstigen bzw. in manchen Fällen desolaten familiären Situation. Heute wachsen rund 20 bis 30 Prozent der Kinder in schwierigen Familienverhältnissen auf. Dieser Aspekt ist als Erwerbsfaktor für Lernschwächen wie LRS und andere Störungen im Sozialverhalten wie ADS und ADHS als nicht gering anzusehen.

Es gibt nicht wenige Kinder, die neben ihren Lernschwierigkeiten trotz normaler oder zum Teil hoher Intelligenz auch noch seelische Verwundungen erleben. Dabei kann die soziale Benachteiligung eine wichtige Rolle spielen, denn die Bildungschancen sind in Deutschland ungleich verteilt.

Lernschwächen beim Lesen und Schreiben sind auch ein soziales Thema, das immer wieder bildungspolitisch erwähnt wird, aber leider keine wirkliche Relevanz hat. Mit Sicherheit geht man heute im Rahmen der Inklusionsdebatte toleranter damit um, die Betroffenen werden seltener als „Lernbehinderte“ bezeichnet. Aber wir sind in der Bildungspolitik und Fachwelt weit davon entfernt, die betroffenen Kinder präventiv vor seelischen Schäden zu schützen. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht man diese Lernschwächen meistens als Krankheit oder psychische Störung an. Auch die Selbsthilfeverbände haben bisher in der Öffentlichkeit nur ein undeutliches Bild über die Legasthenie vermittelt.

Wie schon erwähnt ist es viel wichtiger, die Kinder trotz ihrer Lernprobleme vor seelischen Schäden zu bewahren. Dieses idealistische Ziel kann kein Gemeinwesen stemmen. Hierfür braucht es viele Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Es gibt schon einige Maßnahmen in Kindergärten und Schulen, die beim Thema Förderung einer gesunden seelischen Stabilität ansetzen. Das reicht aber noch nicht aus.

Man sollte auch bei der Erziehung der Kinder in den Familien ansetzen. Eltern sollten ihre Kinder auch bei Lernproblemen so annehmen wie sie sind und sie damit unterstützen. Bei stabilen Familienverhältnissen können die Kinder auch seelisch stabil heranwachsen und die Lernschwächen leichter bewältigt werden.

In den heutigen Industriegesellschaften gibt es viele soziale Probleme. Das sieht man oftmals auch bei Kindern mit LRS. Auch bei Legasthenikern existieren diese Umweltfaktoren. Bei ihnen überwiegt aber der Fakt, dass diese spezielle Lese-Rechtschreib-Schwäche als Veranlagung gehäufter in den Familien auftritt. Es gibt vielfältige Ursachen, weshalb Kinder mit LRS oder Legasthenie keine Förderung in ihrer Kindheit erhalten. Das liegt zum Teil auch an den schwierigen Rahmenbedingungen im Bildungswesen.

Praktische Hinweise

Uns sind wichtige Punkte aufgefallen, wie man Kinder mit einer Legasthenie oder LRS vor seelischen Schäden bewahren kann:

  • Bedingungslose Annahme des Kindes – trotz seiner Lernprobleme ist es wertvoll und gewollt.
  • Bieten Sie dem Kind Geborgenheit und Zuwendung.
  • Zeigen Sie Einfühlungsvermögen gegenüber dem Kind.
  • Besprechen Sie Schulprobleme und Ängste offensiv und klar.
  • Vermeiden Sie, dass Sie Ihr Kind wegen der Probleme abwerten: Du taugst nichts! Du wirst es nie im Leben zu etwas bringen! Du bist dumm… Solche Aussagen sollten Sie unbedingt vermeiden – weil es dem Kind schadet eine gesunde Identität zu entwickeln.
  • Wenn Sie über einen längeren Zeitraum psycho-somatische Probleme wie Einnässen, Schulverweigerung, Wutausbrüche und Ängste bei Ihrem Kind beobachten, dann lassen Sie sich von Fachleuten (Lehrer, Psychologen, Kinderärzte) beraten. Nehmen Sie diese Probleme ernst und lassen Sie sich dabei helfen!
  • Wenn Sie Probleme bei der Erziehung bemerken, suchen Sie eine Beratungsstelle auf.
  • Sind Sie als Elternteil von einer Legasthenie betroffen, sollten Sie ihre Biografie aufarbeiten und die Lernprobleme kompensieren. So können Sie die Schwierigkeiten des Kindes besser nachvollziehen und dem Kind eine gute Stütze sein.

Beherzigen Familien diese Ratschläge, können sie selbst positiv auf die seelische Entwicklung der Kinder einwirken. Bestehen die Probleme weiter, sollten sich die Eltern fachlichen Rat bei Spezialisten suchen. Ein Weg dabei ist eine spezielle lerntherapeutische Einzelförderung, deren Ziele die Förderung einer gesunden psychischen Stabilität und die therapeutische Bewältigung der Probleme beim Lesen und Schreiben sind.

Auf diese Weise kann man den Kindern helfen, frühe Wunden präventiv zu vermeiden oder diese aufzuarbeiten.