LRS-Klasse oder Einzelförderung?

LRS-Klasse oder Einzelförderung? Was Eltern beachten sollten.

LRS-Klasse

LRS-Klasse – ja oder nein? Solche Anfragen erhalten wir häufiger von verunsicherten Eltern, wenn es um die Entscheidung geht, das Kind in eine LRS-Klasse zu schicken, oder nicht. In Sachsen und Thüringen gibt es bis heute, trotz Inklusion, LRS-Sonderklassen. Sollte die LRS-Einschätzung an den LRS-Stützpunkten der Stadt Dresden und im Umland „auffällig“ bzw. „grenzwertig“ sein, erhalten Eltern eine Empfehlung für eine LRS-Klasse. In der Fachwelt gibt es für diese Dehnungsklassen (Beginn in der 3. Klasse bis Ende der 4. Klasse) wenig Konsens. Einige Fachleute sind dafür – andere sprechen sich gegen diese „Sonderschulen“ aus. Aus wissenschaftlicher Perspektive werden wir uns das für und wider dieser LRS-Klassen genauer ansehen.

LRS-Klassen bedeuten Exklusion – keine Inklusion

Es ist ein heikles Unterfangen, Grundschüler aus dem gewohnten Lernumfeld wieder herauszunehmen. In der Regel haben sich die Schüler in dieser Phase schon gut an das Umfeld der Klasse gewöhnt. Sie haben eine Lehrer-Schüler-Beziehung entwickelt und sind meistens gut im Klassenverband integriert. Mit Sicherheit gibt es, je nach Schule, unterschiedliche Erfahrungen. Jedoch sind wir überzeugt: Eine Herausnahme des Kindes aus der Klasse bedeutet Exklusion statt Inklusion. Soziologisch gesehen verpasst man damit dem Kind ein „LRS-Etikett“, was diesem dann langfristig vermittelt, dass es als schwach oder gestört abgestempelt wird. Man bezeichnet dies „Selbstetikettierung“ – indem aufgrund schwächerer Leistungen im Schriftspracherwerb dem Kind ein krankhaftes oder gestörtes, von der Norm abweichendes, Selbstbild vermittelt wird. LRS-Klassen bedeuten für den Schüler aus dieser Sicht – Exklusion – und eben keine Inklusion. Diese Separierung wird sich unweigerlich auf das Selbstwertgefühlt (Selbstbild) der Kinder auswirken. Nicht wenige Kinder entwickeln durch diese LRS-Klassen erst recht Verhaltensprobleme und psychosomatische Erkrankungen. Sie zeigen oft Versagensängste, Demotivation, Wutausbrüche und depressive Verstimmungen.

LRS-Klassen begünstigen Störungen im Sozialverhalten

Nach unseren Beobachtungen begünstigen diese LRS-Sonderklassen Störungen im Sozialverhalten. So beobachteten wir an unserem Institut in den letzten Jahren, dass sich diese Kinder selten optimal entwickeln können. Wir sagen, die Ablehnung einer LRS-Klasse ist für die gesamte Entwicklung der Kinder hilfreicher. Betroffene Kinder können im gewohnten Lernumfeld verbleiben, damit erleben sie Inklusion und können dazu separat außerschulisch gefördert werden. In vielen Fällen erleben Kinder ohne den Besuch einer LRS-Klasse eine gute Entwicklung.

LRS-Klassen können keine differenzierte Einzelhilfe leisten

Zudem ist uns in den letzten Jahren aufgefallen, dass die Förderung der Kinder in den LRS-Klassen sehr unterschiedlich ist. Scheinbar gibt es keine einheitlichen Förderkonzepte. Bei Klassenstärken von rund 12 – 14 Kindern ist eine differenzierte Förderung unrealistisch. Kinder lernen in diesem Dehnungsjahr zwar den Schulstoff langsamer, was ein Aspekt wäre, der für eine solche Beschulung spricht. Dennoch sind damit die Probleme nicht langfristig in den Griff zu bekommen. Kinder mit LRS oder Legasthenie lassen sich im Hinblick auf ihre Lernschwierigkeiten und ihre Entwickelung nicht vereinheitlichen, sie sind unterschiedlich. Häufig brauchen diese Kinder einen längeren Zeitraum und umfassendere Einzelförderung, als es in den LRS-Klassen möglich ist. Dazu kommt, dass die Ursachen der Lese-Recht-Schreibschwächen meist nicht unterschieden werden, was ebenfalls gegen eine LRS-Klasse spricht. Die Ursachen der Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb sind nämlich vielfältig und müssen für eine gute schulische Entwicklung mit berücksichtig werden. Im Bildungswesen existiert einzig der Sammelbegriff „LRS“, was das Differenzieren erschwert, und darum muss eine LRS-Klasse nicht für jedes Kind hilfreich sein. Nur wenn die Ursachen der individuellen Schwächen richtig erkannt werden, besteht eine Chance, dass die betroffenen Kinder sich entsprechend ihrer Ressourcen entwickeln können. Dies ist aber leider in unserem Bildungswesen nicht geben.

LRS-Klassen aus dem Aspekt der Menschenwürde

Außerdem ist es auch eine ethische Frage, Kinder in diesen LRS-Klassen zu separieren! Andersherum gefragt – verletzt man nicht die Würde unserer betroffenen Kinder, wenn man sie in Sonderklassen separiert? Eltern müssen abwägen, was für ihr Kind das Beste ist. Denn Eltern haben das Recht, sich gegen eine LRS-Klasse zu entscheiden. Und so sollten Eltern sich auch nicht von den Schulen unter Druck setzen lassen. Eltern können und sollen sich frei entscheiden – dafür oder dagegen.

Fazit:

Wenn Eltern sich bei der Einschätzung unsicher sind, sollten sie sich eine zweite Meinung einholen, um das Beste für ihr Kind zu entscheiden. Dann können sie sich entweder für eine LRS-Klasse oder Einzelförderung entscheiden.

Weiterführende Berichte:

 

 

Wer zu seiner Legasthenie steht, kann sie leichter bewältigen!

Ein Erfahrungsbericht von Lars Michael Lehmann

Eine Legasthenie kann man erst dann bewältigen, wenn man seine Biografie, mit seinen negativen Erfahrungen aufgearbeitet hat. Dazu habe ich einige Jahre gebraucht. Weil, ich keine Hilfe zur Bewältigung meiner Legasthenie, von Lehrern, Eltern oder staatlicher Seite bekam. Darum musste mich selber auf den Weg machen, um eine Antwort für mich zu finden. Denn ich hatte den Willen, meine Legasthenie zu bewältigen. Ich wollte mein Leben, entsprechen meiner Möglichkeiten gestalten. Das ist mir bis heute gelungen! Wie es mir gelang, werde ich hier berichten. weiterlesen →

Legasthenie und Hochbegabung

Das Thema Hochbegabung und Legasthenie ist bis heute ein wenig beachtetes Gebiet, weil die bisherige Legasthenieforschung sich überwiegend mit den Defiziten legasthener, Menschen beschäftigt hat. Es gibt aber einige Indizien und Beispiele für sehr begabte Menschen mit Legasthenie (Dyslexia). Albert Einstein ist nur einer von vielen begabten Legasthenikern, die zwar eine Schwäche mit dem Lesen, Schreiben, und wie es bei Einstein der Fall war, auch eine Rechenschwäche haben – der aber trotzdem auf vielen Gebieten große Begabungen hatte.

In den letzten Jahren unserer Arbeit haben wir immer wieder Schützlinge erlebt, die sehr begabte Schüler sind. Das Thema Hochbegabung ist ein sehr vielfältiges Thema. Leider können sich viele nicht vorstellen, wie man als Legastheniker Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, und dabei trotzdem auf anderen Gebieten besonders begabt sein kann, die nichts mit diesen Kulturtechniken zu tun haben. Aus der Biografie von Albert Einstein wissen wir, dass er sich alle Theorien bildhaft vorgestellt hat.

In seinen Vorstellungen kam keine Schriftsprache vor. Er tat sich in seiner Kindheit mit dem Lesen, Schreiben und auch Rechnen schwer – was für viele in unserer heutigen Gesellschaft kein wirkliches Indiz für eine besondere Begabung ist. Besonders schwierig wird es, wenn man Schüler mit Legasthenie und Hochbegabung fördern will. Die differenzierte Diagnose einer Legasthenie in Kombination mit einer Hochbegabung ist fast nicht möglich, da man im Bildungssystem einen IQ von mindestens 130 für eine Hochbegabung verlangt, damit legasthene Hochbegabte „Exzellenzförderung“ erhalten. Seit Jahrzehnten halten Selbsthilfeverbände und das Schulwesen an dieser sehr ungerechten Festsetzung fest, obwohl die Hochbegabtenforschung (nach einer Studie von Rost, 2000) diese Herangehensweise in einer empirischen Studie widerlegt hat.

In dieser Studie untersuchte man Hochbegabte auf ihren IQ, wobei nur ca. 15 % der Probanden der Forderung von 130 IQ entsprach. Daher lässt sich bei dieser Festlegung im Bildungssystem von einer hohen Intelligenz als Potenzial für herausragende Leistung daher schwerlich sprechen. Ziegler schreibt weiter: Leistungen können viel besser durch vorangegangene Leistungen prognostiziert werden. Trotzdem bietet eine leistungsbasierte Definition von Hochbegabung keine gute Erklärung, da sie das fundamentale wissenschaftstheoretische Prinzip verletzt, wonach Erklärungen auf einer allgemeineren Ebene angesiedelt sein müssen als die Phänomene, die sie erklären sollen. Das heißt also, wenn man vielleicht Einstein oder andere begabte Legastheniker mittels IQ-Test beurteilen will, würden nur die festgesetzten Quotienten gemessen werden, diese aber können die wirklichen Fähigkeiten dieser Menschen nur im geringen Maße widerspiegeln. Sieht man sich nämlich Einsteins Leistungen im Laufe seiner Entwicklung an, wird klar, dass er ein Legastheniker und wahrscheinlich auch Dyskalkuliker mit einer Hochbegabung war. Sehr ähnlich kennen wir es aus der persönlichen Lebensgeschichte, das viele Testungen meist Fehleinschätzungen der wirklichen Fähigkeiten waren. Sicherlich kann man nicht von jedem Betroffenen sagen, er sei hochbegabt.

Aufgrund unserer Beobachtungen in der Praxis wissen wir, dass es viele Legastheniker gibt, die man nicht als exzellente Leister erkannt hat, weil man nur deren „Schwäche“ in der Testung beachtet hat. Aus der Intelligenzforschung wissen wir, dass standardisierte IQ-Tests für die durchschnittliche Bevölkerung weitestgehend richtig prognostiziert werden können. 80 IQ Hauptschule, 100 IQ Mittlere Reife, 120 IQ Gymnasium. Haben aber Probanden besondere Fähigkeiten oder Schwächen (Legasthenie, Dyskalkulie), wird es unweigerlich zu Fehleinschätzungen kommen. Daher wird der Ansatz eines IQ von 130 bei der Förderung von Hochbegabten diesen nicht gerecht. Wir kennen ein Beispiel aus der Praxis. Ein 13-jähriger Schüler hatte einen IQ von ca. 135 von der Sächsischen Bildungsagentur bestätigt bekommen. Dieser bekam dann eine Empfehlung für eine staatliche Hochbegabtenschule in der Region. Nun trat aber der Fall ein, dass dieser Schüler große Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatte und schon sekundäre Begleitsymptome, wie z.B. Versagensängste, entwickelt hatte. Zusätzlich lag immer der Verdacht einer LRS nahe, so stand im Gutachten, dass dieser Schüler vermutlich eine Lese-Rechtsschreib-Schwäche habe. Nach unseren Testungen kam heraus, dass der jugendliche Legastheniker eine Hochbegabung hatte. Denn die Schwierigkeiten lagen in der Familie, sein Vater ist auch Legastheniker mit einem Hochschulabschluss. Trotzdem wurde der Schüler völlig falsch eingeschätzt. Denn auf dieser Hochbegabtenschule scheiterte er, weil die Anforderungen beim Erlernen mehrerer Fremdsprachen und die viele schriftliche Arbeit ihn von den Leistungen her haben völlig versagen lassen.

Und so musste er die Schule wieder verlassen, kam auf ein öffentliches Gymnasium, wo er sich dann Stück für Stück zusammen mit unserer Förderung verbessern konnte. Aber nun muss man sich die Frage stellen, ob der Schüler trotzdem hochbegabt ist? Nach unserer Sicht ist er mit seiner Legasthenie auch ein Hochbegabter, der im Bildungswesen einfach nicht richtig beurteilt wurde – weil die IQ-Messung den Schüler nicht richtig eingeschätzt hat. Bei Schülern mit einer genetisch bedingten Legasthenie ist es sehr häufig der Fall, dass die wirklichen Leistungen im Bildungssystem nicht richtig eingeschätzt werden, was mit dem schwammigen LRS-Begriff zusammenhängt, welcher alle Schwächen, egal ob erworben (LRS) oder veranlagt (Legasthenie), zusammenfasst. Wir kennen sehr viele Fälle, bei denen die Schüler nicht richtig eingeschätzt wurden, daher konnten diese sich nicht entsprechend ihrer tatsächlichen schulischen Leistungsfähigkeit entwickeln. Sind die Schüler dann in einigen Bereichen besonders begabt und haben in anderen Bereichen Lernschwächen, so werden sie sehr häufig nicht in ihren Fähigkeiten gefördert.

Buchbesprechung: Lesen und Legasthenie aus kognitionspsychologischer Perspektive

Post vom 10.01.2010

Der führende französische Intelligenzforscher Prof. Stanislas Dehaene veröffentlichte im Sommer 2010 die deutsche Ausgabe des Sachbuchs „Lesen – Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert“.

In seinem umfassenden Werk beleuchtet er sehr differenziert heutige wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehung der Lesekompetenz. Neuronale Strukturen und Verarbeitungsprozesse werden im Detail genauer beleuchtet. Auch das Lesen lernen beschreibt er sehr gut. Außerdem stellt er die heiß debattierte Ganzwortmethode infrage und zeigt eindeutige Fakten auf für die Ineffizienz dieser Leselernmethode.

Besonders interessant ist das Kapitel über das Legasthenikergehirn, wo er auf sehr wichtige Zusammenhänge bei der Entstehung der Legasthenie eingeht. Dass ein Kognitionspsychologe natürlich von einer Lesestörung schreibt, ist nicht verwunderlich. Er bekräftig aber: „Unter Legasthenie versteht man eine unverhältnismäßige Schwierigkeit beim Leseerwerb, die nicht durch eine Verzögerung der geistigen Entwicklung, durch Mängel der Sinneswahrnehmungen oder durch ein ungünstiges soziales oder familiäres Umfeld erklärbar ist“, was wiederrum bei erworbenen Schwierigkeiten der Fall sein kann. Da treffen mögliche Erkrankungen der Sinnesorgane, Mängel in der geistigen Entwicklung, sowie seelische Erkrankungen, und Schwierigkeiten im sozialen oder schulischen Umfeld auf. Mit dieser Definition wird in dem Jahre währenden Streit, ob man Legasthenie und erworbene Schwierigkeiten, also die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), differenzieren muss, auch einmal von einem Psychologen eine klare Position bezogen. Bisher gab es in der populären Literatur keine derartige Differenzierung. Daher liegt es nahe, auch bei der Diagnostik zu differenzieren, um bei den Betroffenen mit Erfolg intervenieren zu können.

Die Wissenschaft streitet bis heute, ob nun die Legasthenie nur mit einer anderen visuellen (sehen) oder nur optischen(hören) Verarbeitungsstörung zu tun hat. Die komplexen Zusammenhänge der hörenden und sehenden Wahrnehmung beim Lesen und Schreiben, diese ist bei Legasthenikern unterschiedlich, es gibt vielfältige Kombinationen und Ausprägungen. Verschiedene Studien belegen, dass die Legasthenie auf eine andere neuronale Verschaltung der linken und rechten Gehirnhelfe zurückzuführen ist. Sie bestätigen, dass man mit einem Training aller Sinnesfunktionen das Gehirn neu strukturieren kann, da es sich durch seine Neuroplastiziät umfassend neuorganisieren kann. Daher kann man nach der Lektüre dieses Buches zu dem Schluss kommen, dass legasthene Menschen über eine veranlagte Variation universaler neuronaler Mechanismen verfügen, um anders das Lesen zu erlernen – jedenfalls ist Legasthenie als ein Krankheitsbild, ein Störbild oder gar ein Defizit nicht mehr tragbar. Im engeren Sinne liegt nur eine andere neuronale Verschaltung mit komplexen Zusammenhängen vor, die man durch ein umfassendes Lernumfeld mit Erfolg ausgleichen kann.

Dehaene bezweifelt, dass es längerfristig keine Behandlungsformen einer Legasthenie geben wird, um eine Legasthenie zu heilen, da sie erwiesener Maßen ein Prof. Stanislas Dehaenees und neurologisches Erbe darstellt. Dieses Sachbuch sollte die Wissenschaftswelt animieren, sich viel umfassender und interdisziplinärer mit diesen Thema zu beschäftigen, so dass Menschen mit einer Legasthenie die gleichen Möglichkeiten haben, sich zu entwickeln.

Wer sich mit diesem sehr komplexen Thema einmal genauer beschäftigen möchte, dem empfehle ich unbedingt dieses Sachbuch. http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=348725

Buchcover: Knaus Verlag