Aus der Perspektive eines Betroffenen: Ist man als Legastheniker wirklich behindert?

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Legasthenie behindert

Lars M. Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Ja, ich habe es am eigenen Leib erfahren, dass man als Legastheniker als behindert angesehen wird. Damals zur DDR-Zeit galt man mit Lernproblemen beim Lesen und Schreiben recht schnell als lernbehindert und musste auf eine „Hilfsschule“ gehen. Zu dieser Zeit kannte man den Begriff „Legasthenie“ nicht. Heute ist es zwar etwas humaner geworden, wenn ich mir die Entwicklung in Mitteldeutschland seit der Wende 1989 ansehe. Trotzdem weiß man über unsere Herausforderungen als Legastheniker nur wenig. Im heutigen Bildungswesen ist man zwar offener oder inklusiver geworden. Dennoch wissen viele Fachleute, die mit Betroffenen arbeiten, recht wenig darüber und können sich nicht in unsere Lebens- und Gefühlswelt hineinversetzen.

Eine Schublade oder ein Etikett „behindert“ oder „krank“ hat man für uns schnell parat. Ich halte es für einen Fehler, dass selbst der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. uns Betroffene so sieht. Denn der Verband kämpft schon seit Jahren für eine anerkannte Behinderung oder Krankheit, die im medizinischen Manual der ICD-10 als umschriebenes psychisches Störbild gelistet ist. Deswegen bin ich auch kein Mitglied in diesem Verband.

In den 90er Jahren erfuhr ich erst über Umwege, dass ich kein gängiger Lernbehinderter war, sondern verschiedene Fachleute meinten, dass ich ein normal intelligenter Legastheniker sei. Folgerichtig dachte ich, dass ich jede Bildungschance erhalten müsste und forderte sie bei Behörden und Ministerien ein. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich nicht, dass wir Betroffenen als Behinderte eingeordnet wurden. Deshalb war es nicht einfach, über die Agentur für Arbeit eine passende berufliche Rehabilitation zu erhalten. Denn die Behörde sah einen als Behinderten, was mir rückblickend nichts brachte. Die Behörde war nicht in der Lage, eine individuelle Integrationsmaßnahme zu fördern.  Sondern man bekam in der Regel nur gesagt, was man nicht darf und nicht kann. Das passte nicht zu meinen beruflichen Vorstellungen, die ich hatte.

Vor rund 20 Jahren wollte ich Fotograf werden, weil ich dafür familiär geprägt war und die entsprechende Begabung dazu hatte. Hier in Ostdeutschland spielte sicherlich die schwierige wirtschaftliche Lage eine Rolle. Obwohl ich mehrfach die Chance hatte, eine Ausbildung bei einem Fotografen zu machen, stellten sich die Behörden quer, weil in meinem Fall ein Berufsförderungswerk in Bad Pyrmont zuständig war. Das verstand ich damals nicht. Denn mit einer Legasthenie braucht man aus heutiger Sicht mehr Zeit für schriftliche Arbeiten, die Rechtschreibung war in diesem Fach weniger von Bedeutung. Hier zählen etwas Mathematik, technisches Verständnis, ein hohes Maß an Kreativität und Offenheit mit Menschen zu arbeiten. Diese Voraussetzungen erfüllte ich durch reichlich Praxiserfahrung. Das berufliche Reha-Assessment sah das damals anders. Und mein Berufswunsch musste den Vorstellungen der Behörden weichen. Gezwungenermaßen wurde ich zum Siebdrucker umgeschult, womit ich nicht viel anfangen konnte. Hier wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass ein „Behindertenstatus“ nichts bringen kann. Keine wirkliche Integration, sondern Ausgrenzung. Das war Integration gegen die zu integrierende Person. Es sollte aber umgekehrt sein: Man sieht das Potenzial und fördert es dementsprechend. Darum kann man mich vielleicht verstehen, warum ich einen Behindertenstatus eher kritisch sehe. Eine Legasthenie ist eine Schwäche, die man mit viel Mut und Selbstmotivation kompensieren kann, insofern man psychisch stabil genug ist. Deshalb braucht man keinen Behindertenstatus dafür. Ich hätte mir unter einem Berufsförderungswerk vorgestellt, dass man dort einen auf die individuellen Lernschwierigkeiten zugeschnittenen Förderunterricht bekommt. Das hätte in der freien Wirtschaft besser funktioniert. Aus meiner Sicht sind solche Einrichtungen nicht wirklich zeitgemäß.

Für mich hatten diese Erfahrungen aber auch etwas Gutes. Ich konnte mich einfach nicht auf den Staat verlassen, sondern musste lernen, in Eigenverantwortung meinen beruflichen Weg zu gehen. Einfach war dieser Schritt nicht. Er war unbequem. Heute kann ich auf diese Erfahrungen mit einem Schmunzeln und in Dankbarkeit zurückblicken. Diese Erfahrungen waren neben meiner Forschung ein gutes Rüstzeug für meine heutige Arbeit mit den betroffenen Schützlingen. Denn es gibt keinen Grund, warum wir als Legastheniker zur Gruppe „behinderter Menschen“ zählen sollten.

Man darf nicht leugnen, es gibt sicherlich Erwachsene, die aufgrund schlechter Lebensbedingungen nicht ausreichend gefördert wurden und neben der Legasthenie psychische Folgeerkrankungen bekommen haben. Hier mag es Einzelfälle geben, bei denen eine seelische Behinderung gegeben ist. Aber das gilt nicht für alle Betroffenen, weshalb die klinische Psychologie, die eine Legasthenie als Behinderung einordnet, keine Hilfe zu deren Bewältigung ist.

Meine langjährige Erfahrung zeigt: Man muss die Problematik Legasthenie und LRS wesentlich differenzierter sehen. Die Ursachen und die individuellen Probleme sowie die vorhandenen Lernvoraussetzungen sind bei den Betroffenen unterschiedlich. Dabei scheint der sozioökonomische Hintergrund der Betroffenen eine wichtige Rolle zu spielen. Erhalten Betroffene in ihrer Kindheit und Jugend Hilfe zur Bewältigung ihrer Schwäche, dann werden sie seltener seelische Probleme neben der Legasthenie oder LRS entwickeln. Die LRS ist meistens eine durch Umwelteinflüsse erworbene Schwäche, während die Legasthenie oft erblich veranlagt ist. Hier braucht es mehr Forschung. Nur wenn wir die Ursachen erkennen und uns mit der frühen präventiven Förderung auskennen, können wir die Betroffenen bei der Bewältigung und Kompensierung ihrer Schwäche begleiten, was ein individuelles Fallverstehen erfordert. In der heutigen deutschsprachigen Fachwelt passiert auf diesem Gebiet zu wenig, eine rein medizinisch diagnostizierte Rechtschreibstörung bringt den Betroffenen keine wirkliche Integration. Der Fokus muss auf Differenzierung und Prävention in der Kindheit und wenn nötig im Erwachsenenalter liegen. Erwachsene benötigen dann erfahrene und einfühlsame Experten an ihrer Seite, die möglichst diese Probleme selbst durchlebt und bewältigt haben.

Es mag sein, dass wir immer vom Selbsthilfeverband und von politischer Seite Unterstützung einfordern. Ich glaube aber, es ist eine sozialromantische Utopie, dass uns das Gemeinwesen umfassend integrieren kann. Die langjährige Praxiserfahrung zeigt, man wird als Betroffener nur durch Mut und mündige Selbsthilfe seinen Platz in der Gesellschaft finden. Von staatlicher Seite kann man das nicht erwarten. Sicherlich benötigen benachteiligte Betroffene auch Hilfe. Hier ist die Zivilgesellschaft gefordert, anderen Menschen unterstützend zur Seite zu stehen. Vom Staat ist auf lange Sicht keine Hilfe zu erwarten. Wer darauf hofft, wird sicherlich sehr enttäuscht werden.

Wegen Legasthenie auf Arbeit diskriminiert

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Letzte Woche war ein Bericht auf dem Blog der Zeitung Die Zeit „Stufenlos“ über
Meseret Kumulchew ein mit dem Titel: „Wegen Legasthenie diskriminiert“ zu lesen. Diesen Artikel will ich nicht unkommentiert lassen.

Dass Legastheniker in unserer Gesellschaft häufig nicht richtig verstanden werden – ist nichts Neues, auch aus der international Perspektive, gibt viele Probleme mit der beruflichen Integration von Betroffenen. Sie werden selten im Bildungswesen, richtig eingeschätzt und Arbeitgeber haben große Hemmungen sich dem Thema anzunehmen. Sie sind meistens voreingenommen, der Stempel als Legastheniker krank oder behindert zu sein, ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Nicht, weil wir Legastheniker behindert oder krank wären, denn das ist als Diffamierung unser Persönlichkeitsrechte zu bewerten, die unsere Menschenwürde verletzt – die klinisch-psychologischen Fachrichtung (Bundesverband Legasthenie), hat ein einseitiges und undifferenziertes Bild von uns Legasthenikern, in den letzten 40 Jahren gezeichnet. Dies wird leider häufig, wie wir es im Bericht lesen, von vielen Journalisten – kritiklos übernommen. Auch wenn manche Missstände, wie im Fall der Starbucks-Mitarbeiterin aus London beschrieben werden. Das Leben von uns Betroffenen in der Arbeitswelt ist sehr vielfältig!

Die Medien berichten, selten differenziert darüber, sie stellen meisten als „beeinträchtigte“ hin. Sie sollten mehr über unsere guten Potenzial berichte, was der Sache wirklich dienlicher wäre.

Und wenn so ein Bild, von uns gezeichnet wird, dann übernehmen diese Sicht, auch die Arbeitgeber, was eine Integration in den Arbeitsmarkt erschwert. Die  Engländerin Meseret Kumulchew ist nur ein Beispiel von vielen. In Deutschland, erleben wir diese Fälle häufiger, wo Arbeitgeber wenig über das Thema Legasthenie Bescheid wissen. Die Chancen, die Menschen als Fachkräfte mitbringen, werden häufig verkannt. Weil, man nur das vorgefertigte undeutliche Störbild eines scheinbar kranken Mitarbeiters vor Augen hat. Ein differenzierter Blick wird dadurch verstellt, was nicht wenige Betroffenen an ihrer beruflichen Integration hindert. Sicherlich gibt es Ausnahmen, besonders im IT-Bereich oder in kreativen Berufen, gehört es häufig zum guten Ton: „Legastheniker zu sein.“ Denn nicht wenige Legastheniker bringen auf verschiedenen Gebieten ausgezeichnete Leistungen, die unsere Wirtschaft dringend benötigt.

Dazu brauchen wir keinen Behindertenstatus, den uns der Staat, die EU oder die Pharmaindustrie aufbürden will – nein wir brauchen uneingeschränkte Freiheit, uns entsprechend unserer Potenziale zu entfalten.

In mehrfachen Fällen läuft es in der Wirtschaft für Legastheniker recht gut, sofern sie selber Unternehmer oder Führungskräfte sind. Dort können, sie sich gut entfalten, wenn sie niemanden haben, der sie behindert. Unsere Erfahrung zeigt, dass nicht wenige Legastheniker in der Wirtschaft gute Positionen eingenommen haben, sie reden nur nicht darüber. Wir kennen einige Unternehmer und Führungskräfte, die als Legastheniker gut in ihrem Arbeitsfeld zurechtkommen. Dort besteht die Chance, das Arbeitsumfeld, an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. So, gelingt häufig die Integration in den Arbeitsmarkt. Die Versuche von staatlicherseits, uns als „Behinderte“ berufliche zu integrieren, scheitern regelmäßig. Weil, man keine wirklichen Erfahrungen mit Betroffenen hat. Ich habe es über viele Jahre so erlebt! Mein Widerstand hat sich gelohnt, denn heute bin ich der Position, wo ich immer hinwollte, denn ich wollte mein Leben selber gestalten und wollte Verantwortung übernehmen! Genau das macht mir riesigen Spaß!

Meine Sicht ist: Wir brauchen mehr Legastheniker in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verantwortung – die sich outen. Das würden vielen Betroffenen
Mut machen. So können wir die Diskriminierung in unserer Gesellschaft beseitigen.