Wir haben in Deutschland eine hohe Zahl funktionaler Analphabeten, sie werden auf rund 7,5 Millionen Erwachsene (16 – 64 Jahre) geschätzt – und es gibt einige Hinweise, warum wir in unserem hochentwickelten Industrieland so viele funktionale Analphabeten haben.
Durch unsere allgemeine Schulpflicht haben alle Bürger das Lesen und Schreiben erlernt. Darum spricht man nicht von Analphabeten, so wie wir sie in den Ländern der Dritten Welt kennen. In vielen armen Ländern ist noch heute der Alphabetisierungsgrad sehr gering. In einigen Ländern liegt er unter 20 Prozent.
Daher haben wir in Deutschland „funktionale“ Analphabeten – sie haben alle das Lesen und Schreiben in der Schule gelernt, aber diese Fähigkeiten in der Regel nur ungenügend im Alltag angewendet bzw. haben sie diese aus unterschiedlichen Gründen wieder verlernt. Solche Gründe sind häufig: soziale Ungleichheit, psychische Erkrankungen sowie niedrige Schul- und Berufsabschlüsse. Die Folgen einer Suchterkrankung spielen bei funktionalen Analphabeten eine wichtige Rolle, die man ebenfalls als Ursache nennen kann. Künftig werden zu dieser Gruppe viele Menschen aus der gegenwärtigen Flüchtlingskrise hinzukommen, die noch größere Schwierigkeiten, als funktionalen Analphabeten, wie wir sie kennen. Zu diesem Personenkreis gehören, wahrscheinlich viele Analphabeten, die keine Schule besucht haben. Daher ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser Personenkreis in Deutschland sich um einige hunderttausend Menschen erhöhen könnte. Auch die soziale Lage aller Betroffenen könnte sich stark verändern, weil sich die soziale Frage nach der beruflichen Integration und gesellschaftlichen Teilhabe in diesem Bereich verändern wird. Hierbei wird es Chancen und Risiken geben – hier wird sich zeigen, inwiefern das Gemeinwesen in der Lage sein wird, eine Lösung für alle Beteiligten zu finden – egal welche Herkunft die Menschen haben. Da bis heute in diesem Bereich wenig getan wurde, bestehen dort Risiken einer weiteren Polarisierung des sozialen Gleichgewichts, besonders im unteren Drittel der Bevölkerung – wo viele funktionale Analphabeten anzutreffen sind.
Bei genauerem Hinsehen, ist der funktionale Analphabetismus eine komplexe Umschreibung der Probleme im Lesen und Schreiben bei Erwachsenen in unserer Gesellschaft. Bisher hat die Bildungs- und Sozialpolitik einige Projekte gestartet, um der Problematik Herr zu werden. Inwiefern es unserer Gesellschaft langfristig gelingen wird, diese Menschen in unser Gemeinwesen zu integrieren, ist bislang unklar. Denn eine nachhaltige Integration dieser Erwachsenen gestaltet sich sehr schwierig. Die Ursachen und in vielerlei Hinsicht sozialen Auswirkungen, mit denen diese Menschen zu kämpfen haben, sind sehr langwieriger Natur und komplexer, als dass es Sinn macht, sie nur in Alphabetisierungskursen zu alphabetisieren. Nicht wenige benötigen eine langjährige Begleitung, um die Probleme langfristig zu bewältigen – sofern sie überhaupt zu bewältigen sind. Je älter diese Menschen werden, desto geringer sind die Chancen einer langfristigen Eingliederung. In einigen Kursen ist die Abbruchquote mit 11 Prozent ziemlich hoch. Auch die Hürden, sich im Erwachsenenalter nochmals auf eine Schulbank in der Volkshochschule zu setzten – um die Probleme in den Griff zu bekommen – sind bei vielen Betroffenen recht ausgeprägt. Viele geben zeitliche Gründe oder gar geringe Motivation an, um einen Kurs durchzuhalten.
Nun muss man sich dazu die Frage stellen: Warum haben wir in unserem reichen Land so viele Erwachsene, die funktionale Analphabeten sind? Einige Ursachen wurden als Indiz genannt. Eine sehr große Rolle spielt in unserem Land das soziale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Die stagnierenden Zahlen im Bereich Harz IV bzw. der sozialen Grundsicherung zeigen uns, dass nicht wenige aus dem beschriebenen Personenkreis dort zu finden sind.
Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik redet schon seit Jahrzehnten darüber, die Bedingungen dieser Menschen zu verbessern. Bis heute hat sich in diesem Bereich ein großer Bildungsmarkt etabliert, der funktionale Analphabeten beschulen und integrieren will. Bis heutige wird die Qualität und Effizienz dieser Bildungsangebote in der Fachwelt diskutiert. Nachweislich wirksame Hilfen sind bisher recht rar.
Dazu muss angemerkt werden, dass nicht wenige Probleme bei den Betroffenen schon im Kindesalter kompensiert werden könnten. Erwerben die Kinder aus welchen Gründen auch immer eine Lese-Recht-Schreibschwäche, so besteht die Gefahr, dass daraus funktionale Analphabeten werden könnten. Hierbei spielt der soziale Aspekt eine wichtige Rolle, dass diese Menschen evtl. langfristig benachteiligt werden. Die Folgen für unser Gemeinwesen sind hierbei nicht zu unterschätzen.
Leider hat bis heute die Sozial- und Bildungspolitik in diesem Bereich keine nachhaltige und wirksame Hilfe für diese Menschen entwickelt. In der Vergangenheit wurden viele Chancen im Bereich der Alphabetisierung verpasst. Man sollte über nachhaltige und innovative Konzepte nachdenken, die die Betroffenen langfristig in die Mitte unserer Gesellschaft integriert.
Ob dies gelingen kann bleibt abzuwarten.