Corona-Krise wird die soziale Ungleichheit bei Kindern mit LRS verstärken

Eine Einschätzung von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Es ist unstrittig, dass Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten bei Kindern durch soziale Probleme begünstigt werden können. Schon vor der aktuellen Krise gab es eine deutliche soziale Ungleichheit bei Familien mit lese-rechtschreib-schwachen Kindern. Der soziale Hintergrund der Familien spielt oft eine große Rolle, inwiefern Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben bewältigt wurden. Denn nicht alle Familien konnten sich eine nachhaltige Lerntherapie finanziell leisten. Unser Bildungs- und Sozialwesen hat seit vielen Jahren zu wenig für benachteiligte Familien getan.

Durch die derzeitige Corona-Krise besteht die Gefahr, dass sich die soziale Lage der Familien weiter verschlechtert. Denn der Shutdown mit seinem längeren Schulausfall wird vor allem lernschwache und sozial benachteiligte Kinder in eine prekäre Lage bringen, die sehr wahrscheinlich die sozialen Probleme der Kinder mit LRS verstärken wird. In Sachsen ist eine mögliche Steigerung der Zahl von LRS-Kindern infolge der Krise denkbar, denn die derzeitige Situation im Schulwesen begünstigt diese Probleme bei Kindern mit Lernschwächen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Kinder nach der Krise in eine LRS-Klasse gehen müssen, wie es in Sachsen üblich ist. Schon vor der Krise war die Situation aus wissenschaftlicher und ethischer Sicht völlig unzureichend, denn in jedem Jahr gab es mehr Schüler, bei denen eine LRS festgestellt wurde. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Herangehensweise im sächsischen Schulwesen aus dem Gesichtspunkt der Inklusion und Menschenwürde umstritten ist. Durch Separation in die LRS-Klassen fördert man keine Integration der betroffenen Schüler und jedes Kind sollte unabhängig von seiner sozialen Herkunft eine individuelle Unterstützung erhalten. Dies ist bei Lernschwächen im Regelfall nur mit einer 1-zu-1-Förderung sinnvoll. Leider hat die staatliche Seite schon vor der Krise kaum etwas für die Betroffenen getan. Die rechtliche Lage durch die Gesetzgebung in § 35a SGB VIII schloss viele Betroffene aus der Förderung durch das Jugendamt aus, denn nicht alle Kinder sind von einer seelischen Behinderung bedroht. Durch die aktuelle Krise besteht die Gefahr, dass sich diese Schieflage in der staatlichen Unterstützung von lernschwachen Kindern und Jugendlichen weiter verstärkt.

Als Schlussfolgerung aus dieser Krise muss diese Herangehensweise unbedingt korrigiert werden. Denn wenn man diese benachteiligten Kinder weiterhin nicht bei der Bewältigung ihrer Lernschwierigkeiten unterstützt, können sozial-gesellschaftliche Konflikte wegen der sozialen Ungleichheit begünstigt werden. Die Zahl der betroffenen Familien ist schwer abzuschätzen, es ist davon auszugehen, dass rund ein Drittel der Bevölkerung unterschiedliche Probleme beim Lesen und Schreiben hat. Die Bewältigung dieser gesellschaftlichen Herausforderung war schon vor der Corona-Krise an Grenzen gestoßen, die jetzige Situation verschärft dieses Problem. Das Schulwesen wird deutlich an seine Grenzen kommen. Die Betroffenen sollten bei der Lockerung der aktuellen Maßnahmen nicht vernachlässigt werden. Gemeinnützige Einrichtungen und soziale Initiativen müssten von staatlicher Seite deutlich mehr unterstützt werden als vor der Krise. Dagegen sollten nicht-gemeinwohlorientierte Einrichtungen zweitrangig behandelt werden, weil bei ihnen vor allem ihr wirtschaftliches Fortkommen im Mittelpunkt der Tätigkeit steht. Darum wäre es wichtig, dass die sozialwirtschaftlichen Akteure sicher durch diese Krise kommen. Bisher gibt es keine staatlichen Schutzschirme für Sozialunternehmen! Diese Initiativen werden nach der Corona-Krise einen wichtigen Beitrag leisten, um Betroffene zu beraten, Diagnostiken durchzuführen und die psychosozialen und pädagogischen 1-zu-1-Förderungen zu unterstützen. Dieser gemeinwohlorientierte Auftrag darf nicht aus dem Fokus geraten, denn das Schulwesen wird diese Aufgabe nicht allein leisten können. Deswegen wäre eine Kurskorrektur während und nach der Krise wichtig! Dadurch könnten wir die Betroffenen nachhaltiger fördern und integrieren. Jedes Kind, dass wir vor psychischen Schäden bewahren können, ist ein wertvoller Gewinn für die Gesellschaft. Unsere Hoffnung ist, dass wir gemeinsam eine gute Lösung für alle Betroffenen finden.


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Warum ist das Thema LRS-Klasse ein viel diskutiertes Thema?

Wir erleben es seit der Gründung unseres Instituts hier in Dresden, dass Sonderschulen in Form von LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema sind. Es braucht zu diesem Thema noch viel Aufklärungsarbeit bei Eltern, die Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten haben.

Warum sind LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema?

Objektiv gesehen sind LRS-Klassen selbst in der Fachwelt ein umstrittenes Thema. Sie existieren nur in Sachsen und Thüringen. Auch die Selbsthilfeverbände sind sich in ihrer Beurteilung uneins. Der Landesverband Legasthenie Sachsen spricht sich für eine derartige Beschulung aus. Dagegen spricht sich der Kindes- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne für eine Einzeltherapie bzw. Einzelförderung bei Legasthenikern aus und findet eine Gruppenförderung weniger hilfreich. Es gibt bei den Legasthenie-Verbänden unterschiedliche Auffassungen darüber, ob LRS-Klassen für legasthene Schüler geeignet sind oder nicht. Nach unseren Beobachtungen der letzten Jahre kann gesagt werden, dass sich diese Sonderbeschulung unterschiedlich auf die Kinder auswirkt. Diese Klassen können eine Ergänzung zur Bewältigung der Schwächen darstellen – sie müssen es aber nicht. Bei einigen Kindern kann es vorkommen, dass diese nach einer LRS-Klasse nur wenige Fortschritte gemacht haben. Hier spielen individuelle Lernprobleme und die familiäre Unterstützung eine große Rolle, ob die Schüler eine Legasthenie oder LRS bewältigen können. Diese Lernunterstützung in Gruppenform und einem eng begrenzten Zeitraum ist in nicht wenigen Fällen zu wenig.

Die Ursachen der Lese-Rechtschreib-Schwächen werden zu wenig berücksichtigt

Weil man die Ursachen für Lese-Rechtschreib-Schwächen bei einer LRS-Feststellung zu wenig berücksichtigt, kann es dabei zu Fehleinschätzungen kommen. Häufig fallen Kinder mit höherer Intelligenz und einer Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht auf und fallen durch das LRS-Kriterium der Schule. Die meisten positiv getesteten Kinder fallen durch familiäre Probleme und deutliche sprachliche oder motorische Defizite auf und kommen dann in eine LRS-Klasse. LRS-Feststellungen bedeuten deshalb keine Individualdiagnostik, sondern sind ein grobes Gruppentest-Verfahren, was meistens nur eine symptomatische Einschätzung ermöglicht. Die Ursachen für diese unterschiedlichen Schwächen werden meistens nicht berücksichtigt, da den Fachleuten oft das Hintergrundwissen fehlt. Kinder werden erst dann gute Lernfortschritte erlangen, wenn die Ursachen für die Schwierigkeiten erkannt werden. Diese liegen nicht selten im sozialen Hintergrund der Familie (trifft bei LRS zu) oder Elternteile hatten ähnliche Schwierigkeiten in der Schule (trifft bei Legasthenie zu) oder das Kind erlebte bei normaler Intelligenz eine verlangsamte kindliche Entwicklung. Diese Hinweise fehlen in der Regel im LRS-Feststellungverfahren. Deshalb kommt es immer wieder zu falschen Einschätzungen.

Inklusion und der Aspekt der Menschenwürde

In der Bildungspolitik steht das Thema Inklusion schon seit längerer Zeit auf der Agenda. LRS-Klassen sind aus dieser Perspektive umstritten, weil die betroffenen Schüler mit dieser Beschulungsform separiert und nicht integriert werden. Wir kennen Schüler, die nach der LRS-Klasse größere Schwierigkeiten hatten, in der 4. Klasse ihrer Heimatschule wieder fußzufassen. Aus dem Aspekt der Menschenwürde heraus steht jedem Kind eine individuelle Integration zu. Daraus ergeben sich Fragen, über die sich alle Beteiligten Gedanken machen müssen. Aus Berichten von Betroffenen und deren Eltern wissen wir, dass LRS-Klassen oft soziale Brennpunkte sind. Zumindest ist das aus den größeren Städten wie Dresden, Leipzig und Chemnitz zu hören. Hier stellt sich die Frage, ob diese Herangehensweise dann wirklich einen integrativen Zweck hat. Besser wäre es für die betroffenen Schüler, wenn sie ein sozial stabiles Lernumfeld erleben. Dadurch verbessern sich die Chancen, die Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb zu bewältigen. Leider wird der soziale Gesichtspunkt im Bildungswesen nicht berücksichtigt.

In Zeiten der Inklusion braucht es eigentlich keine LRS-Klassen, sondern die Lehrer an den Schulen sollten in der Lage sein, Kinder differenziert entsprechend ihrer Veranlagungen und Fertigkeiten zu unterstützen. Aus diesem Grund werden LRS-Klassen ein viel diskutiertes Thema bleiben und das Thema Menschenwürde sollte dabei nicht vernachlässigt werden. Kinder können durch diese Separationserfahrung langfristig einen seelischen Schaden nehmen. Uns sind einige Fälle von Erwachsenen bekannt, die mit dieser Erfahrung psychische Folgen davongetragen haben. Die Eltern sollten sich genau mit der Thematik auseinandersetzen und die Entscheidung für oder gegen eine solche Sonderschule gemeinsam mit dem Kind abwägen – sind sich Eltern unsicher, sollten sie sich von Experten beraten lassen, um eine objektive Entscheidung zu treffen. Viele Schulen sind bei der Beratung der Eltern leider häufig nicht objektiv. Den Familien steht das Recht zu, eine selbstständige und mündige Entscheidung zum Wohle des Kindes zu treffen. So kann die Bewältigung der Schwäche gelingen.

 

 

Was ist Dyskalkulie / Rechenschwäche?

Je nach wissenschaftlicher Quelle werden Schwierigkeiten im Erlernen der Mathematik mit unterschiedlichen Begriffen wie Dyskalkulie, mathematische Lernstörung, Rechenstörung, mathematische Lernschwäche, mathematische Schulleistungsschwäche, Rechenschwäche usw. umschrieben. In der englischsprachigen Literatur sind die Begriffe „mathematical disabilities“, „learning disabilities in mathematics“ oder „arithmetic learning disabilities“ geläufige Beschreibungen von Dyskalkulie bzw. Rechenschwäche. Aufgrund dieser unklaren Begrifflichkeit gibt es auch unterschiedliche Schätzungen über die Anzahl der Betroffenen in der Bevölkerung. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. geht von 4-6 Prozent der Schüler aus, die das Kriterium Dyskalkulie erfüllen. Das muss nicht bedeuten, dass diese Schätzungen verlässlich sind. Die Diagnostik nach der ICD-10 für Rechenstörungen wird von vielen Forschern als unzuverlässiges Kriterium beurteilt. Es ist davon auszugehen, dass es eine Dunkelziffer an Betroffenen geben muss, die nicht richtig eingeschätzt oder übersehen werden. Diese Betroffenen fallen dann mit ihren problembelasteten schulischen Biografien auf, die unerkannt zu psychischen Folgeerkrankungen führen können.

Zu den Ursachen der Rechenschwierigkeiten (Dyskalkulie)

Über die Ursachen gibt es verschiedene Annahmen und wenig Einigkeit in der Fachwelt dazu. Das ist  ähnlich wie auf dem Gebiet der Lese-Rechtschreib-Schwächen. Einerseits nimmt man an, dass Rechenschwächen durch Probleme der Vermittlung im Mathematikunterricht an den Schulen entstehen können. Andere Ursachen könnten aber auch der kognitive Entwicklungsstand der Kinder, ihre neurologische Besonderheiten und genetischen Komponenten sowie das soziale Umfeld (Migration usw.) sein, die eine kausale Wechselwirkung erzeugen. Deshalb nimmt man unterschiedliche Typen dieser Schwächen im Erlernen der arithmetischen Grundlagen an. In der noch jungen Forschung spricht man von Lehr- wie Lernstörungen. Es können bei einer durchschnittlichen Intelligenz auch kombinierte Schwächen Legasthenie/Dyskalkulie auftreten. Studien deuten darauf hin, dass rund 40 – 60 Prozent der lese-rechtschreib-schwachen Kinder kombinierte Lernschwächen Legasthenie/Dyskalkulie aufweisen. Oft kommen diese Rechenprobleme wie bei der Legasthenie gehäufter in der Familiengeschichte vor. In der Vergangenheit kamen diese Schüler oft auf eine Sonderschule für Schwerpunktlernen, die als Sonderschule für Lernbehinderte oder zu DDR-Zeiten als Hilfsschule bezeichnet wurden.

Bei der Diagnose einer Dyskalkulie wird häufiger das in der Fachwelt umstrittene Intelligenzkriterium angewendet als es bei der Legasthenie der Fall ist. Die Verwendung des „durchschnittlichen IQ“ als Diagnosekriterium, wie es beispielsweise die WHO-Definition empfiehlt, ist bei Schwierigkeiten im Erwerb der Kulturtechniken im Lesen, Schreiben und Rechnen allgemein strittig. Es wird in der Fachwelt diskutiert, ob sich die Lernschwierigkeiten bei Schülern mit einem hohen oder tieferen IQ unterscheiden, weil diese Tests nur einen Aspekt von Intelligenz messen würden und somit höchstens den Unterschied zwischen diesem Aspekt und dem Lesen oder Rechnen feststellen könnten. Außerdem müsste beachtet werden, dass der gleiche Diskrepanzwert zwischen Intelligenzquotient und schulischen Leistungen bei verschiedenen Kindern eine jeweils ganz andere Bedeutung haben könne. Das erschwert es, betroffene Schüler mit ihren Problemen im Rechnen richtig einzuordnen. Andere Autoren deuten auf die unklare Validität von Intelligenztests im Zusammenhang einer Diagnostik bei Lernschwächen der Kulturtechniken hin und kritisieren daher diese Herangehensweise bei der Diagnostik dieser Lernschwächen. Da die gängigen Intelligenztests stark durch sprachliche Entwicklung, sprachgebundene Denkleistungen und Schichtenzugehörigkeit geprägt sind, machen sie nur beschränkt gültige Aussagen für eine Feststellung einer Dyskalkulie (das gilt auch für Legasthenie) möglich. So kommt es häufiger zu Fehleinschätzungen oder die Betroffenen werden nicht richtig mit ihren Lernschwächen und in ihrem Förderbedarf eingeschätzt und erkannt. Darum können sich nicht-bewältigte Rechenschwächen zu psycho-sozialen Verhaltensstörungen entwickeln, die sich in ungünstigen Fällen zu einer seelischen Behinderung chronifizieren. Wie bei der Legasthenie ist nicht davon auszugehen, dass sich eine Schwäche beim Rechnen lernen automatisch zu einem psychischen Störbild entwickeln muss. Deshalb ist die Diagnostik nach der ICD-10 für eine inklusive und entwicklungsorientierte Unterstützung der Betroffenen mithilfe der pädagogisch-lerntherapeutischen Einzelförderung wenig förderlich.

Für das Erkennen einer Rechenschwäche bedarf es eines personellen Fallverstehens über die gesamte Entwicklung des Betroffenen hinweg, um die individuellen Schwächen beim Erlernen der Rechenfähigkeiten und die möglichen Lern- und Entwicklungsressourcen richtig einzuschätzen. Dieser umfassendere Ansatz fehlt derzeit in der Fachwelt häufig gänzlich.

Unser Institut ist um einen solchen Ansatz bemüht. Darum orientieren wir uns fachlich und aus der Perspektive der Menschenwürde nicht an der Diagnostik der ICD-10 und ihren Kriterien.

Diese Beitrag befindet sich in unserer Rubrik: Legasthenie/Rechenschwächen

 

Was ist richtig? Störung oder Schwäche?

Was ist richtig? Störung oder Schwäche?

Der Begriff „Störung“ bei Lese-Rechtschreib-Schwächen bedeutet Verletzung der Menschenwürde

Wir erleben es in der Praxis in Gesprächen mit Eltern und Betroffenen, dass die Ansichten darüber auseinandergehen, ob die Legasthenie eine Störung ist und die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) als vorübergehende bzw. erworbene Schwäche zu verstehen ist. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es unterschiedliche Definitionen und Meinungen. Die klinische Psychologie geht meistens von einer Lese-Rechtschreib-Störung aus, die sich an der ICD-10 (psychische Störungen) orientiert. Pädagogen definieren häufig alle Lese-Rechtschreib-Probleme gleichermaßen als LRS.

Selten erleben wir Familien oder Betroffene, die ihre Lese-Rechtschreib-Probleme als Störung bezeichnen. Häufiger werden diese Schwierigkeiten als Schwäche definiert, eine Darstellung als Störung ist für einen Großteil der Betroffenen befremdlich. Der Bundesverband Legasthenie definiert diese Probleme dagegen als Störung. Diese Sichtweise wird kontrovers diskutiert und nicht von allen Fachleuten geteilt.

Die Fachleute an unserem Institut sind zum Teil selbst Betroffene. Für uns existiert der Begriff „Störung“ nicht – weil wir diese Definition als Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde sehen. Außerdem ist eine Lese-Rechtschreib-Störung ein stigmatisierender Begriff, den man aus Wahrung der Würde der Betroffenen nicht verwenden darf. Diese Begrifflichkeit suggeriert in der Öffentlichkeit eine nicht-bewältigbare Krankheit. Aus der Perspektive der Betroffenen ist dies nicht hilfreich. Viele definieren ihre Problematik als Schwäche, die eben als unterscheidendes Persönlichkeitsmerkmal zu uns Betroffenen dazu gehört.

Seelische Erkrankungen können sekundäre Folgen einer nicht bewältigten Lese-Rechtschreib-Schwäche sein – erst durch die Nicht-Bewältigung können sich diese Lernprobleme bei normaler Intelligenz zu Störungen der Persönlichkeit entwickeln. Es ist strittig, dass normale Kinder eine Störung haben, bevor sie die Schule absolviert haben. Vermutlich entstehen psychosomatische Probleme bei Legasthenikern dadurch, dass sie negative Erfahrungen in der Schule sammeln und die Eltern aus Unwissenheit nicht adäquat mit den Lernproblemen ihrer Kinder umgehen können. Unsere Annahme ist: Wenn Kinder eine frühe Förderung und Hilfe zur Bewältigung ihrer Schwäche erfahren, werden sie sich zu seelisch stabilen Kindern entwickeln können. Das bezeichnet man auch als Resilienz. Diese Betroffenen entwickeln weniger seelische Erkrankungen und können an ihren Problemen wachsen. Solche Fälle beobachten wir in unserer Arbeit. Darum ist der Begriff „Störung“ unpassend. Richtig ist, dass erwachsene Legastheniker ohne eine frühe adäquate Förderung und Kompensation der Schwäche sekundäre Erkrankungen entwickeln können – dies betrifft aber nicht alle Betroffene. Darum braucht es bei der Beurteilung von Betroffenen mehr Differenzierung.

Richtig ist, es gibt unterschiedliche Ursachen für Lese-Rechtschreib-Probleme. Einerseits gibt es Schwächen, die erworben werden können (LRS). Andererseits gibt es Schwächen, die gehäufter in den Familien über Generationen auftreten können. Dann spricht man von einer speziellen Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie). Viele Ursachen dafür sind bis heute nicht vollständig erforscht, wir nehmen an, dass die Umweltprobleme in der Familie und im Bildungswesen für den Verlauf der Schwäche einen entscheidenden Einfluss haben können. Je besser die Lern- und sozialen Lebensbedingungen sind, desto leichter lassen sich die Probleme bewältigen. Da die Lebensbedingungen der Betroffenen unterschiedlich sind, müssen die Verläufe dieser Schwierigkeiten verschieden sein. Ähnlich beobachten wir die biografischen Entwicklungen in unserer Arbeit.

Unsere Meinung ist: Unsere Umwelt macht die Betroffenen zu gestörten Persönlichkeiten. Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche ist eine Schwäche, die durch frühe Förderdiagnose und präventive Förderung gut bewältigt werden kann, wenn die Betroffenen diese Hilfe so früh wie möglich erhalten. Hierbei spielt nach unseren Erfahrungen der soziale Status der Betroffenen eine maßgebliche Rolle, inwiefern Betroffene unbeschadet ihre Probleme bewältigen werden.

Fazit:
Es gibt unterschiedliche Lese-Rechtschreib-Probleme bei Betroffenen, zum einen können diese erworben sein und andere können von familiären Anlagen dazu herrühren. Ob und wie die Lernprobleme bewältigt und kompensiert werden können, hängt vermutlich von den Umweltbedingungen in den Familien und im Bildungswesen sowie maßgeblich vom sozialökonomischen Status ab. Wir beobachten bei unserer Arbeit, dass diese Faktoren in ihrem Zusammenhang eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Problematik der Betroffenen spielen. Aus ethischer Sicht sollte der Begriff „Schwäche“ verwendet werden und nicht der Begriff „Störung“ kommuniziert werden.