Rezension: Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik

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Das Sachbuch von Manfred Gersbach beschreibt ausführlich das psychodynamische Verstehen in der Sonderpädagogik – Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern.

Im ersten Kapitel wird sehr anschaulich über die persönlichkeitsstrukturierenden Beziehungen in der Kindheit referiert. Der Autor setzt Grundlagen, indem er Argumente liefert, warum das psychodynamische Verstehen in der Sonderpädagogik bzw. Pädagogik allgemein auch auf unserem Fachgebiet der Legasthenieforschung für die Bewältigung von Lernschwierigkeiten und Verhaltensproblemen hilfreich ist. Dabei wird auch auf die für uns wichtigen Bereiche der Theorien der Psychoanalyse, der Bindungstheorie und Säuglingsforschung sowie einer Kindheit unter erschwerten Bedingungen eingegangen, die aus unserer Sicht wichtig für das Verstehen der sozialen Ursachen der Umweltbedingungen beim Erwerb von LRS bzw. anderer Lernstörungen sind.

Im zweiten Kapitel wird ausführlicher über persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Adoleszenz berichtet. Darin gibt es eine Einführung in den Adoleszenzbegriff und die einzelnen Entwicklungsstadien bei Jugendlichen zwischen 11 und 20 Jahren. Hier geht es um die Zusammenhänge und Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels, wie sich Teenager entsprechend ihrer Identität und ihres Selbst entwickeln. Dabei wird deutlich herausgestellt, wie wichtig dabei das Säuglings- und Kindesalter ist. Dann wird auf die körperliche und geschlechtliche Entwicklung im Adoleszenzalter eingegangen.

Das dritte, letzte und kürzeste Kapitel erklärt den Zusammenhang von Psychodynamik und sonderpädagogischer Praxis. Es ist eine Anregung für die praktische Arbeit im Bereich der (Sonder-)Pädagogik und zeigt, wie wichtig die Subjektgenese (Fallentwicklung) in der praktischen Arbeit mit den Klienten oder anvertrauten Schützlingen ist. Mit dieser kann man genauer erkennen, wie die inneren Prozesse das Verhalten und Lernen steuern. Pädagogisches Fachpersonal sollte die Psychodynamiken ihrer Schützlinge erkennen und reflektieren lernen, das psychodynamische Verstehen sollte eine Kernkompetenzen von uns Fachleuten sein. So besteht eine nachhaltige Chance für eine entwicklungsförderliche Bildungs- und Förderpraxis.

Fazit:

Das Fachbuch von Prof. Dr. Manfred Gerspach vermittelt nicht nur Sonderpädagogien eine gelungene Einführung zum besseren Verständnis des psychodynamischen Verstehens der Entwicklungsstadien von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Bildungs- und Erziehungsbedarf. Auch für unsere Spezialdisziplin, die ein Teilbereich der Sonderpädagogik und Pädagogischen Psychologie ist, könnte das verbesserte Fallverstehen durch genaueres Verständnis der individuellen Lern- und Entwicklungsgeschichten im Bereich der spezialisierten Lerntherapie ein guter Weg für eine entwicklungsförderlichere Arbeit sein, indem nicht nur die Defizite im Sozialverhalten als Störbilder oder Krankheiten etikettiert werden. Dieser psychotherapeutische Zugang könnte Fachleuten helfen, einen verbesserten Zugang zum Innenleben des Schützlings zu erhalten, um möglicherweise vorhandene Beschädigungen abzumildern oder solchen präventiv vorzubeugen. Darum ist dieses Sachbuch eine wichtige Horizonterweiterung in unserer spezialisierten Fachdisziplin, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, die besonderen Förderbedarf aufweisen.

Das Sachbuch ist beim Kohlhammer-Verlag erhältlich.

 

Gute Erziehung legt die Grundlage zur Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Schwäche

Erziehung ist eine gute Basis für die Bewältigung der Lese-Recht-SchreibschwächeUnsere Erziehung gibt vor, wer wir werden und was wir tun (Parens, 2017). So titelt Prof. Henri Parens, MD der Thomas Jefferson University, in einem Fachaufsatz, der im Buch „Bindung und emotionale Gewalt“ des bekannten Bindungsforschers Karl Heinz Brisch herausgegeben wurde. Die Eltern-Kind-Bindung ist eine wichtige Grundlage für die Erziehung und emotionale Entwicklung der Kinder. Sie bildet die Basis dafür, wie sich das Selbst und langfristig das Selbstbild des Kindes entwickeln wird. Diese Erkenntnisse sind wichtig für die Legasthenieforschung, denn eine gute Erziehung ist eine wichtige Grundlage dafür, dass sich Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen langfristig bis ins Erwachsenenalter gut entwickeln können. Oder die Kinder haben durch ungünstige Umweltbedingungen und Bindungsmuster eine geringere Bindungsfähigkeit, woraus psycho-soziale Verhaltensstörungen bis hin zu einer seelischen Behinderung entstehen können.

Deshalb muss auch die Definition der Lese-Rechtschreib-Störung als generalisiertes Krankheitsbild Kritik aushalten. Hier müssen wir uns die Fragen stellen: Kommen lese-rechtschreib-schwache Kinder mit einer Krankheit auf die Welt? Oder werden sie erst durch ihre Umwelt, durch ihre Erziehung, das Schulwesen und die Gesellschaft zu auffälligen Kindern?

Ein medizinisches Störbild Lese-Rechtschreib-Störung verhindert holistisches Fallverstehen und vernachlässigt Erziehung und Bildung

Die medizinisch-psychologische Fachwelt betrachtet die Lese-Rechtschreib-Störung häufig als ein pathologisches Konstrukt. Man misst die Auffälligkeiten im Lesen und Schreiben, in vielen Fällen dazu auch die Intelligenz, die Konzentration und vergleicht sie dann mit der entsprechenden Altersklasse. Statistisch gesehen mag man damit auffällige Kinder entdecken. Häufig entdeckt man sie aber nicht, weil die gemessenen Ergebnisse je nach Tagesform schwanken können.

Viel wichtiger aber ist die Frage: Wie hat sich das Kind im Verlauf seines Lebens psycho-emotional entwickelt? Hierbei spielt die Erziehung, die auf der Bindungsfähigkeit zu den Eltern beruht, eine wichtige Rolle, inwiefern langfristig Lese-Rechtschreib-Schwächen durch genauere Kenntnis der Entwicklungsgeschichte kompensiert und bewältigt werden.

Ein Aspekt dabei ist, es muss Indikatoren dafür geben, warum seelische Gewalt oder gar Vernachlässigung sowie eine geringe Bindungsfähigkeit zu Lernschwächen im Lesen und Schreiben führen können. Diese Dimensionen wurden bisher in der Legasthenieforschung nur wenig berücksichtigt.

Aus dieser Betrachtungsweise heraus wird deutlich, dass die Diagnose Lese-Rechtschreib-Störung für eine nachhaltige Hilfe nicht ausreicht. Hierzu braucht es ein holistisches Fallverstehen, welches die gesamte Entwicklung der Betroffenen einbezieht. Deshalb ist der familiäre Hintergrund als Bindungs- und Erziehungsinstitution für das Verstehen des Einzelfalls unumgänglich. Darum greift eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fähigkeiten als medizinisches Störbild (Krollner, 2018) zu kurz. Diese Definition etikettiert und stigmatisiert die Betroffenen. Aus ethischer und menschenrechtlicher Perspektive sollte diese Definition aus der ICD-10-GM gestrichen werden.

Institutionelle Prägungen beeinflussen und formen die Erziehung und Bildung

Familien erziehen ihre Kinder von Anfang an unter dem Druck der in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschenden Ideen und Vorstellungen. Diese institutionellen Prägungen beeinflussen und formen die jeweilige Erziehung und dadurch die psycho-emotionale Entwicklung der Kinder. Deshalb spielt die Erziehung eine wichtige Rolle für die kognitive Lernfähigkeit und Reifung der Kinder. Erfahren Kinder Liebe und Angenommensein, werden sie daraus eine gesunde Bindungsfähigkeit entwickeln können, die sie psycho-emotional zu resilienten Kindern werden lässt. Je stabiler die Kinder mit Lernschwächen heranwachsen können, desto besser können sie ihre Legasthenie bewältigen. Andere Kinder wiederum werden keine LRS erwerben, wenn ihre Umwelt (Familie und Schulwesen) bestmögliche Bedingungen bietet.

Andererseits muss es möglicherweise am Erziehungsstil und der familiären Vorprägung und ihrer Familienhistorie liegen, ob sich Kinder fehlentwickeln oder das Leben in seiner Entwicklung gelingen kann. Dabei scheinen gesellschaftliche und öffentliche Bildungsinstitutionen durch eine vorgeprägte Gruppenidentität eine Rolle im dynamischen Entwicklungsprozess zu spielen. Vermutlich spielt die Kernfamilie eine größere Rolle, wie wir in ihr geprägt werden und was aus den Kindern später einmal werden kann. Je günstiger die Bedingungen sind, desto besser werden Betroffene mit Lese-Rechtschreib-Schwäche durch das Schul- und spätere Erwachsenenleben gelangen. Deshalb legt die Familie durch ihre Erziehung eine wichtige Basis für das Lernen allgemein (Lehmann, 2018).

Quellen:

Krollner, D. B. (2018). F81.-Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. http://www.icd-code.de. ICD-10-GM, Version 2018, Systematisches Verzeichnis: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Zugriff am 5.5.2018. Verfügbar unter: http://www.icd-code.de/icd/code/F81.0.html

Lehmann, L. M. (2018, April 17). Eltern-Kind-Bindung und emotionale Entwicklung sind wichtige Faktoren zur Bewältigung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. http://www.legasthenie-coaching.de. Internetpräsenz von Legasthenie Coaching – Institut für Bildung und Forschung gUG (haftungsbeschränkt), Zugriff am 5.5.2018. Verfügbar unter: https://www.legasthenie-coaching.de/eltern-kind-bindung-und-emotionale-entwicklung-sind-wichtige-faktoren-zur-bewaeltigung-einer-lese-rechtschreib-schwaeche/

Parens, H. (2017). Bindung und emotionale Gewalt (Fachbuch Klett-Cotta). Das bösartige Vorurteil – Ein Weg zur Entladung emotionaler Gewalt (Band Bindung und emotionale Gewalt, S. 145–178). Klett-Cotta.