Können sich LRS-Klassen ungünstig auf die seelische Gesundheit der Kinder auswirken?

Bei unserer Arbeit werden wir immer wieder gefragt, wie sich die LRS-Klassen langfristig auf die Kinder auswirken. Diese Sonderklassen für Kinder mit unterschiedlichen Lese- und Rechtschreibproblemen sind in der Fachwelt umstritten, wie wir hier bereits mehrfach erläutert haben. In einzelnen Fällen beobachteten wir in unseren Interviews, dass Betroffene dabei seelische Wunden davongetragen haben.

Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, inwieweit sich der Besuch der LRS-Klasse ungünstig auf die psychische Verfassung der Kinder mit Legasthenie / LRS auswirkt. Ein Punkt ist dabei die familiäre Situation, in der das Kind aufwächst. Die Herausnahme des Kindes aus der vertrauten Lernumgebung der Heimatschule kann sich auch auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirken. In diesem Alter verstehen die Kinder noch nicht, was der Besuch einer Förderschule bedeutet. Diese frühen Separationserfahrungen können sich ungünstig auf die seelische Gesundheit auswirken. Ein weiterer Faktor ist das schulische Umfeld. Viele Familien beschreiben, dass diese Förderschulen ein Sammelpunkt von sozialen Problemen sind, denn bei vielen Betroffenen ist das familiäre Umfeld nicht intakt. Auch in Sprachheilschulen spielen soziale Probleme oft eine große Rolle. Ähnliches wird uns auch aus den LRS-Klassen berichtet, in denen das Sozialverhalten der Kinder ebenfalls auffällig ist.

Dies ist meistens auf schwierige familiäre Verhältnisse zurückzuführen, die einen ungünstigen Verlauf der Lese-Rechtschreib-Probleme fördern können. Kinder, die ein solch raues soziales Umfeld nicht gewohnt sind, kommen in diesen Förderschulen weniger gut zurecht, was sich letztlich negativ auf ihre seelische Entwicklung auswirken kann.

Die LRS-Klassen sind dabei recht unterschiedlich und es fällt den Betroffenen oft schwer, sie objektiv zu beurteilen. Viele Betroffene haben uns berichtet, dass sich das soziale Umfeld in diesen Förderschulen ungünstig auf ihre Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinein ausgewirkt hat. Denn sie haben diese Beschulung als Demütigung erlebt. Andere Betroffene berichteten dagegen begeistert von ihrer LRS-Klasse. So unterschiedlich können die dabei gemachten Erfahrungen sein.

Die Eltern sind selten in der Lage, die Gefühlswelt ihrer Kinder richtig einschätzen, um zu beurteilen, wie sich die Beschulung in einer LRS-Klasse auf die emotionale Entwicklung der Kinder auswirken wird. Dies erschwert die Entscheidung für oder gegen eine LRS-Klasse. Selten haben Eltern dabei die emotionale Entwicklung ihrer Kinder im Blick. Eine LRS-Klasse mag von viele Eltern als Entlastung wahrgenommen werden. Das ist verständlich, denn viele Eltern sind mit den Problemen ihrer Kinder überfordert. Oft liegt das daran, dass sie in ihrer Kindheit Ähnliches erlebt haben. Davon berichteten uns einige Eltern.

Oft kommt es auch zu familiären Problemen, besonders wenn die Familienstruktur instabil ist.Auch diese Umweltprobleme sammeln sich in solchen Schulen wie in Schulen mit Schwerpunkt Verhalten oder Lernen bzw. in Sprachheilschulen. Diese Förderschulen können psycho-soziale Probleme bei Kindern zusätzlich begünstigen. Auch diese Faktoren sollten von den Fachleuten berücksichtigt werden.

Da die Zahl der Schüler mit Lernschwierigkeiten schon vor der Corona-Krise anstieg, haben die LRS-Stützpunkte nicht genug Zeit, um die Entwicklung der Kinder im Einzelfall genauer zu betrachten. Oft werden nur die schweren Fälle in eine LRS-Klasse aufgenommen. Die Ursachen für diese Schwierigkeiten werden dabei selten berücksichtigt. Das stellt keine gute Basis für eine umfassende und differenzierte Förderung dar.

In einigen Fällen werden Schüler bei den LRS-Feststellungsverfahren nicht richtig eingeschätzt. Unserer Erfahrung nach wird die seelische Entwicklung der Kinder bei den LRS-Stützpunkten vernachlässigt, obwohl ihrer psychischen Stabilität bei der Beurteilung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Denn sie ist die wichtigste Grundlage, um mögliche Schwierigkeiten in der Grundschulzeit gut bewältigen zu können. Erlebt ein Kind eine psychisch instabile Kindheit, die durch die eigene Familie oder das Lernumfeld verursacht wird, wirkt sich dies ungünstig auf seine weitere seelische Entwicklung aus. Die Beschulung in einer LRS-Klasse kann unter Umständen solche negativen Entwicklungen fördern. Deshalb ist dies ein wichtiges Kriterium, ob sich Eltern für oder gegen eine LRS-Klasse entscheiden. Oder sie entscheiden sich für den alternativen Weg einer Einzeltherapie.

Eltern sollten eine zweite Meinung von Fachleuten einholen, wenn sie sich in ihrer Entscheidung unsicher sind. Manchmal ist auch eine spezialisierte Diagnostik in einem Sozialpädiatrischen Zentrum sinnvoll. Hier können Kinderärzte und Psychologen die seelische Entwicklung der Kinder genauer begutachten. Diese Einschätzung ist oft zuverlässiger als die der LRS-Stützpunkte.

Wie kann ein Legastheniker die Wunden seiner Kindheit aufarbeiten?

Erfahrungsbericht von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Durch meine eigene Legasthenie und die langjährige Arbeit mit betroffenen Erwachsenen sammelte ich viele Erfahrungen. Meine Erkenntnis ist, dass sich viele seelische Probleme aus einer belasteten Kindheit als „Wunden“ in unsere Seelen graben können. Das kann an einer problembelasteten Familienkonstellation liegen oder aber an einem ungünstigen schulischen Lernumfeld. Wenn ich es heute richtig verstehe, muss eine Legasthenie nicht automatisch zum seelischen Problem werden, aber die soziale Umwelt kann das begünstigen. Deshalb bedeutet die WHO-Definition der Legasthenie als ein psychisches Störbild nur ein sehr enges Krankheitsbild, welches aber nicht auf die Mehrheit der Legastheniker übertragbar ist. Einerseits wachsen nicht alle Betroffenen in einer belasteten sozialen Umwelt auf. Andererseits treten nicht alle Lernprobleme häufiger in den Familien auf, was aber bei der Legasthenie der Regelfall ist. Sondern es gibt unterschiedliche Lese-Rechtschreib-Probleme, die man als LRS (erworben) und Legasthenie (familiäre Häufung) unterscheiden sollte. Diese sinnvollere Differenzierung wird in der Fachwelt schon seit Beginn der Legasthenieforschung diskutiert.

Während meiner beruflichen Praxis habe ich sehr unterschiedliche Biografien von Legasthenikern und Legasthenikerinnen gesehen.

Abwertung im familiären Umfeld

Ich möchte etwas aus meiner Biografie berichten. In meiner Familie kommt die Legasthenie gehäufter vor. Auch mein Vater ist von einer schweren Legasthenie betroffen. In seiner Kindheit hat sich niemand darum gekümmert, denn er war ein Nachkriegskind und die Familie musste erstmal überleben. Er hatte immer sehr große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die bis heute anhalten. In der Abendschule konnte er den 10.-Klasse-Abschluss erlangen. Er ist wissbegierig und sehr kreativ. Aber in meiner Kindheit konnte er mir aufgrund seiner Probleme keine wirkliche Stütze sein. In schulischen Dingen konnte er mir nicht helfen. Meine Mutter war dagegen im Fach Deutsch und in den Fremdsprachen ein Ass. Sie gab sich große Mühe mich in der Schule zu unterstützen. Aber sie konnte meine Probleme nicht nachvollziehen und wertete mich als Person ab, ohne das zu beabsichtigen. Meine Mutter schämte sich für mich, weil ich zu DDR-Zeiten auf eine Sonderschule für Lernbehinderte gehen musste. Immer wieder wurde mir sehr deutlich gezeigt, dass ich es in meinem Leben zu nichts bringen würde.

Abwertung im schulischen Umfeld

In der Schule war es nicht besser. Erschwerend kam hinzu, dass ich in einem katholischen Elternhaus aufwuchs. Zu DDR-Zeiten war das in meiner Heimat, der ländlichen Oberlausitz, nicht gern gesehen. Unsere Hilfsschule war recht regimetreu. Dort erfuhr ich keine wirkliche Hilfe und Unterstützung. Schon in den ersten Klassen wurde deutlich, dass ich große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatte. Man argumentierte immer, dass das halt eine Lernbehinderung sei. In meinem privaten Umfeld fiel es Bekannten und Freunden von Eltern immer wieder auf, dass ich nicht auf diese Schule gehörte. Doch meine Eltern konnten das nicht ändern und sie mussten sich fügen. Auch in der Schule erlebte ich eine Abwertung. Uns wurde signalisiert, dass wir nach der 8. Klasse keine beruflichen Entwicklungschancen haben würden. Wir müssten uns damit abfinden Hilfsarbeiter zu werden.

Das sind nur kurze Auszüge aus meiner Biografie. Sie machen deutlich, dass ich in meinem Leben allerhand Abwertung erlebte. Sicherlich hatten nicht alle Legastheniker eine solche Biografie. Aber viele von ihnen werden sich hier wiederfinden. Allerdings sehe ich Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern. Für mich ist wichtig, dass ich zu DDR-Zeiten in einem Regime aufwuchs. Das erlebten viele meiner Altersgenossen der DDR-Wendegeneration ähnlich. Auch in den alten Bundesländern gibt es meines Wissens nach Legastheniker mit seelischen Wunden aus ihrer Kindheit. Diese können sehr unterschiedlicher Natur sein. Die Betroffenen der alten Bundesländer lebten in einer freieren und selbstbestimmteren Welt (besonders seit den 68er-Jahren), darum spielte das politisch-gesellschaftliche Leben in ihrer Biografie eine geringere Rolle als bei den in der DDR aufgewachsenen Menschen.

Wie kann ein Betroffener seine seelischen Wunden bewältigen?

Hierfür gibt es keine Patentlösung. Aus meinem eigenen Erleben heraus kann ich sagen, was mir geholfen hat. Entscheidend war für mich diese Brüche in meiner Biografie anzuerkennen. Das war nicht einfach für mich, denn ich musste die Wunden der Vergangenheit mit professioneller Hilfe durch Psychologen und Seelsorger aufarbeiten. Außerdem gelang es mir, aus dem eigenen Betroffensein heraus mich fachlich zu qualifizieren, um jetzt anderen Betroffenen professionell helfen zu können. Als praktizierender Christ durfte ich lernen, wie man seinen Eltern die von ihnen verursachten Wunden vergibt. Ich konnte diese Wunden bei Jesus Christus abgeben, darüber mit meinen Eltern sprechen und ihnen Vergebung zusprechen. Mit meinen schulischen Erfahrungen erlebte ich das ähnlich. Ich habe viel mit vertrauten Menschen geredet, um diese Wunden zu verarbeiten. Dagegen brauchte ich einige Jahre, um die traumatischen Erfahrungen des DDR-Systems zu verarbeiten, in dem ich aus politischen Gründen zwei Jahre als „Behinderter“ in einer Behindertenwerkstatt arbeiten musste. Diese seelisch sehr belastenden Erlebnisse konnte ich bis heute gut verarbeiten. Eine wichtige Stütze dabei waren Freunde und andere vertraute Menschen, mit denen ich gut über alles reden konnte. Diese Gespräche (+ schriftliche Entäußerungen) lösten einen sehr heilsamen Prozess in mir aus. Für meine berufliche Tätigkeit war das eine sehr wichtige Erfahrung. Ich kann heute sehr gut nachvollziehen, wie sich diese seelischen Wunden anfühlen und wie man sie schrittweise bewältigen kann.

Ich würde mir wünschen, dass wir Legastheniker mehr über unsere Biografien in der Öffentlichkeit sprechen. Das hilft bewältigen! Die Verwundungen unserer Kinderseelen wirken bis ins Erwachsenenleben weiter, da gibt es keinen Schlussstrich. Deswegen ist es so wichtig, dass Kinder mit einer Legasthenie in ihrer Schulzeit psychisch stabil bleiben. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb ich die LRS-Klassen in Sachsen kritisiere. Denn diese Sonderschulerfahrung in Form einer LRS-Klasse kann sich als Diskriminierungserfahrung und seelische Wunde bei den Betroffenen auswirken. Ich habe schon einige Erwachsene mit Tränen in den Augen erlebt, die diese Wunde der Ausgrenzung erfahren haben. Auch diese Wunden benötigen Verarbeitung und Heilung.

Diese Schritte sind für manche Legastheniker wichtig, um ihre Schwäche auch im Erwachsenenalter noch zu bewältigen. Leider hat sich die Fachwelt bisher nur wenig mit diesem Bereich beschäftigt. Bei Ängsten und Depressionen ist es sinnvoll psychologische Hilfe zu suchen. Damit habe ich gute Erfahrungen gesammelt. Leider kennen sich nur wenige Psychologen und Therapeuten mit dem Thema Legasthenie aus. Bei den meisten Fachleuten ist heute die Erkenntnis unumstritten, dass Betroffene aufgrund einer nichterkannten Legasthenie seelische Probleme entwickelt haben. Aber die Definition der Legasthenie als psychisches Störbild bzw. Krankheitsbild seitens der WHO ist äußerst strittig. Sicherlich können legasthene Menschen aufgrund der seelischen Verwundungen in der Kindheit (durch Familie und Schule) seelische Belastungen erfahren, die sich dann als Versagensängste, Minderwertigkeitskomplexe oder Verhaltensprobleme äußern. Aus meiner Sicht ist das häufig eine Reaktion auf seelische Wunden und nur in seltenen Fällen entwickeln sich daraus schwere seelische Krankheiten. Meine Schlussfolgerung ist: Es könnten viel mehr Erwachsene ihre Legasthenie bewältigen, wenn sie bereit sind, ihre seelischen Wunden aufzuarbeiten.

Weiterführende Fachaufsätze: