Stellungnahme

Am 01.08.2016 veröffentlichte die FAZ unter der Rubrik „Beruf & Chance“ einen Artikel von Nadine Oberhuber mit dem obigen Titel. Diesen Beitrag möchten wir nicht unkommentiert lassen.

Im Artikel wird über den Legastheniker und Humangenetiker Prof. Tiemo Grimm berichtet. Grimm erforscht schon seit 30 Jahren die genetischen Ursachen der Lese-Recht-Schreibstörung. Seine Familiengeschichte ähnelt der Geschichte vieler anderer Legastheniker, dass mehrere Familienmitglieder von einer Legasthenie betroffen sein können. Diese Beobachtung kennen wir aus der praktischen Arbeit mit Betroffenen sowie aus der Forschung in unserer Einrichtung. Nicht wenige Legastheniker müssen ähnliche Kämpfe im Bildungswesen durchleiden, wie es Herr Grimm selbst für sich und seine Kinder erlebte. Das mag soweit stimmen, trotzdem sind die Verläufe der Lebensgeschichten vielfältig. Wir kennen Berichte, dass das Bildungswesen funktioniert, die Lese-Recht-Schreibprobleme in der Schule gut bewältigt werden – in anderen Schulen werden dagegen die Lernschwierigkeiten ignoriert.

Der Umgang mit der Legasthenie ist im deutschsprachigen Europa nicht einheitlich. Die Ursachen dafür sind häufig im Bildungssystem und den sozialen Zusammenhängen zu suchen. Bei aller nachvollziehbarer Kritik sind die Selbsthilfeverbände leider mit schuld daran. Wir berichten schon seit Jahren darüber und ärgern uns, dass diese Verbände bis in die Berichterstattung der Medien hineinreichen – denn man versucht einseitig die Legasthenie als Krankheit zu platzieren.

Grimms Einsatz und Engagement für Legastheniker ist in der Fachwelt bekannt. Seine Kritik am Bildungswesen ist berechtigt, da auch heute noch Legastheniker in weiten Teilen der Bevölkerung trotz guter Intelligenz als dumm oder gar als Lernbehinderte angesehen werden. Bis heute werden viele Betroffene an einer chancengleichen Bildung gehindert. Das liegt nicht an der Legasthenie, sondern am unflexiblen Bildungswesen. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich im Schulwesen wenig getan. Hier in Ostdeutschland ist man noch rückschrittlicher als in den alten Bundesländern, da man in Sachsen und Thüringen noch immer an den umstrittenen LRS-Klassen als Sonderschulform festhält.

Prof. Grimm erwartet, dass die Pädagogik ein medizinisches Störbild anerkennen soll, obwohl es bisher noch gar nicht richtig erforscht ist. Sinn und Zweck dessen sind umstritten. Nicht wenige Krankheitsbilder nach dem Manual der ICD-10 sind wenig erforscht, aber von den Interessen der pharmazeutischen Industrie gelenkt. Diese Sichtweise hat nichts mit wissenschaftlicher Objektivität zu tun, sondern mit Ignoranz und Einseitigkeit dem Sachthema gegenüber. Denn die Ursachen sind bisher seitens der Genetik her nicht richtig erforscht.  Man kennt bisher Probleme in der Wahrnehmungsverarbeitung bei Legasthenikern und vermutet dabei erbliche Ursachen, aber die wirklichen Ursachen für eine Legasthenie sind bis heute noch nicht bewiesen. Darum ist dieses Krankheitsbild, das der Bundesverband Legasthenie aus dem medizinischen Kontext herleitet, keine reale Erklärung der Probleme unserer Lese-Recht-Schreibschwächen. Bis heute fehlt ein fachübergreifendes Erklärungs- und Ursachenmodell. Die Medizin ist nur ein Puzzlestein der vielen Zusammenhänge, die bei der Legasthenie eine Rolle spielen können. In der Forschung wurden bisher die soziologischen und bildungswissenschaftlichen Ursachen wenig berücksichtigt. Das täte aber einer objektiveren Erforschung gut. Denn die Ursachen sind nicht homogen, sondern multikausaler Natur, die eine fächerübergreifende Forschung erfordert. Davon ist das Forschungsfeld noch weit entfernt. Daher ist eine Krankheit oder anerkannte Behinderung „Legasthenie“ wissenschaftlich nicht haltbar und sollte zur Wahrung der Menschenrechte aus dem Manual psychischer Störungen nach ICD-10 gestrichen werden.

Denn die Annahme, dass Gene eine Lese-Recht-Schreibstörung auslösen sollen, ist einseitig. Viel wichtiger scheinen die Umweltbedingungen zu sein, so unter anderem das soziale Umfeld des Elternhauses und das Lernumfeld. Auch die Sprachgewohnheiten können diese Lernschwierigkeiten verstärken oder dabei helfen, sie zu kompensieren. Dieser Ansatz könnte in der Forschung helfen, die Umwelteinflüsse besser zu verstehen, die bei der Entstehung einer Legasthenie eine Rolle spielen. Die Rolle, die die Medizin in der Legasthenieforschung eingenommen hat, hilft den Betroffenen als Erklärung für die Ursachen ihrer Schwäche nicht. Sondern sie verstärkt die Selbstetikettierung einer diffusen Krankheit, die es in der Realität als Störbild nicht gibt. Dieses vehemente Kämpfen für die Anerkennung einer Krankheit oder eines Behindertenstatus teilen viele Betroffene nicht, solange sie nicht vom Bundesverband Legasthenie oder seinen Landesverbänden beeinflusst worden sind. Denn nicht alle Betroffenen entwickeln seelische Probleme infolge einer unerkannten Legasthenie. Daher
sollte der Ansatz sein: psychosomatische Störungen gehören zum Psychologen, und die Bewältigung der Legasthenie in die Hand von Experten mit interdisziplinärer Ausbildung mit Schwerpunkt Bildungs- und Sozialwissenschaften für eine gezielte pädagogische Förderung.

An der heutigen Situation hat auch der Bundesverband Legasthenie Schuld, da man bis heute in der Öffentlichkeit das Thema nicht enttabuisierte. Neben Prof. Grimm vertritt auch der Bundesverband Legasthenie die These, dass wir Legastheniker als krank oder behindert eingestuft werden sollen. Diese Einschätzung bedeutet Stigmatisierung und Diskriminierung und keine Integration in die Gesellschaft. Warum ist dies so? Eine Erklärung könnte sein, dass die Fachleute des Selbsthilfeverbandes nicht unsere Interessen vertreten, sondern die Interessen der Pharmaindustrie. Schon 2009 wurde der wissenschaftliche Beirat Prof. Gerd Schulte-Körne durch die Lilly Pharma GmbH ausgezeichnet. Dieses große pharmazeutische Unternehmen ist u.a. Hersteller von Ritalin für umstrittene ADHS-Medikamente. Die Industrie will natürlich so viele Patienten wie möglich auf Kosten des Gesundheitswesens therapieren. Weitere Recherchen ergaben, dass Prof. Dr. med. Markus M. Nöthen (wissenschaftlicher Beirat des Bundesverbandes Legasthenie) beim Institut Life & Brain GmbH und beim Institut für Humangenetik des Uniklinikums Bonn arbeitet. Beim genaueren Hinsehen wird das Geflecht der pharmazeutischen Industrie deutlich, in das der Bundesverband Legasthenie eingebunden ist.

Auch die statistisch erfasste Krankheit „Lese-Rechtschreibstörung“ nach dem Manual ICD-10 der WHO muss sich damit der Kritik stellen. Der Mediziner Dr. med. Dieter Lehmkuhl veröffentlichte 2007 ausführliches Material zur Pharmaindustrie und für eine Arzneimittelforschung im öffentlichen Interesse. Darin wurde eine dringend notwendige pharmakritische (fach-) öffentliche Diskussion in diesem medizinischen Bereich angeregt. Herr Dr. Lehmkuhl bestätigte, dass die internationalen Vernetzungen (auch mit Lilly Pharma USA) heute noch bestehen.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Leider wird in den Medien und in der Fachwelt wenig hinterfragt, dass hinter Selbsthilfegruppen und Wissenschaftlern im medizinischen Bereich Lobbyinteressen eine Rolle spielen, die mit der Pharmaindustrie in Verbindung stehen. Es gibt nichts Grundsätzliches gegen die Pharmaindustrie zu sagen, aber die Interessenlage von Selbsthilfeverbänden und Fachleuten ist auch auf dem Gebiet der Legasthenieforschung nicht transparent. Auch wenn Prof. Grimm das Beste für die Betroffenen fordert. Aber ist es wirklich das Beste? Dies ist eine ethische Frage! Der Selbsthilfeverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. befindet sich auf der Lobbyliste des Deutschen Bundestages (Stand 26.1.2016, Seite 212, Nr. 629), was ein weiterer Hinweis auf öffentliche Einflussnahme wäre. Denn registrierte Vertreter der Verbände erhalten damit Zugang zur Lobbyarbeit im Bundestag und können dadurch Einfluss auf Gesetzgebungen (LRS-Erlasse, Sozialgesetzgebung, Diagnoseleitlinien, Krankenkassen etc.), die Bildungspolitik und die Medien nehmen. Die Arbeit des Bundesverbandes Legasthenie ist als ethisch bedenklich einzustufen. Er ist ein Beispiel für viele Selbsthilfeorganisationen, die Verbindungen zur Pharmaindustrie unterhalten. Es wurde schon 2006 in einer Studie von Prof. Gerd Glaeske (Universität Bremen) an mehreren Krankheitsbeispielen belegt, dass Selbsthilfegruppen von der Pharmalobby unterwandert sein können. Auch der Bundesverband Legasthenie arbeitet ähnlich. Bis heute existieren keine öffentlichen Tätigkeitsberichte, die beweisen könnten, dass es keine Lobbyarbeit mit der Pharmaindustrie und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung gibt. Wäre die Verbandsarbeit glaubwürdig, würde man alles transparent machen.

Daher liegt die Annahme nahe, dass die medizinische Lese-Rechtschreib-Störung ein von der pharmazeutischen Industrie gesteuertes Krankheitsbild ist, dass es in der Realität so nicht gibt. Seit vielen Jahren beobachten wir, dass die mediale Berichterstattung unkritisch die Sichtweisen des Bundesverbandes Legasthenie verbreitet. Die FAZ und andere Medien berichten selten objektiv, sondern tendenziell. Laien erkennen diese Einseitigkeit selten. Nicht nur wir kritisieren diesen Umgang mit der Problematik Lese-Rechtschreib-Schwäche in der medizinischen Fachwelt, auch andere Fachbereiche sehen die Probleme kritisch.

Die meisten Betroffenen, mit denen wir Gespräche führten und diesen FAZ-Artikel diskutierten, lehnen eine Eingruppierung der Legasthenie als Behinderung oder Krankheit ab, wie es im FAZ-Artikel getan wird. Aber jeder Betroffene besitzt die Mündigkeit zu entscheiden, wie er wahrgenommen werden will – als behindert oder als normal. Dieses Menschenrecht muss verteidigt werden. Wenn Selbsthilfeverbände uns eine Krankheit einreden möchten, die von der Pharmaindustrie unterwandert sind, gefährden wir unsere demokratische Willensbildung, ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu führen. Eine Konsequenz daraus wäre der Austritt der Betroffenen aus diesem Verband! Wir lehnen aus diesen Gründen schon immer eine Mitgliedschaft oder gar Zusammenarbeit mit diesen Selbsthilfeverbänden ab.

Medien hätten die Pflicht, diese Zusammenhänge aufzudecken. Warum sie es nicht tun, ist eine Frage an das journalistische Ethos.

Eltern, Lehrer und andere Fachleute sollten sich die Interessenslagen und Ziele von Selbsthilfeverbänden und Einrichtungen genauer ansehen, bevor sie sich dort Hilfe suchen.