Lebensbericht und Praxiserfahrung einer 72-jährigen Seniorin mit Legasthenie 

Ein Bericht über die biografische Entwicklung einer Legasthenikerin im Seniorenalter und wie sie dazu kam, sich in ihrem vorangeschrittenem Alter der Lese-Recht-Schreibschwäche zu widmen.

Frau W* wurde 1945 auf dem Lande in Sachsen geboren, ihre Eltern zogen mit ihr in eine sächsische Großstadt, in der die Seniorin noch heute als Witwe lebt. Sie ging seit 1951 in die Schule, noch vor der größeren Reform des Jahres 1959. Zu dieser Zeit gab es noch keine POS. Sie besuchte die 8. Klasse und lernte später Kellnerin und arbeitete bis zur Rente in der Gastronomie. Dieser Beruf machte Frau W. Freude, weil sie gern mit Menschen arbeitete. So konnte sie gut ihre Schwäche auf Arbeit verbergen, für die sie sich ein Leben lang schämte.

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Sie gründete mit einem Ingenieur eine Familie und gebar in den 60er Jahren einen Sohn, der in der Schule Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatte. Mit viel Mühe und Hilfe des Vaters schaffte es der Sohn wie sein Vater zum Ingenieur. Sie behalfen sich mit Nachhilfe. Die Mutter hatte ihr ganzes Leben die gleichen Schwierigkeiten. Sie konnte sie aber durch ihre gute Auffassungsgabe und Kommunikationsfähigkeit bei der Arbeit gut verbergen. Niemand bemerkte auf der Arbeit, dass sie größere Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatte.

Ihr Mann erledigte alle schriftlichen Aufgaben zu Hause, sie kümmerte sich um die praktischen Dinge im Haushalt. Er versuchte ihr immer wieder das Lesen und Schreiben beizubringen, was nur wenige Früchte trug. Sie hatte keinen Zugang zum Schriftspracherwerb. Sie schilderte, dass in der Schule damals niemand auf sie Rücksicht nahm. Sie wurde halt mit durchgeschliffen, wenn sie sich an die Schulzeit erinnert.

Erst wesentlich später wurde ihr klar, dass sie Legasthenikerin sein musste. Denn ihrem Sohn ging es im Vergleich zu ihr recht ähnlich. Nur mit außerschulischer privater Förderung war es dem Sohn möglich, das Gymnasium zu besuchen. Noch heute schreibt er nicht fehlerfrei. Daher gibt es ein Indiz, dass die Legasthenie familiär bedingt ist.

Vor 6 Jahren ging die Frau nach 45 Jahren Arbeit in der Gastronomie in Rente. Sie begriff nie, warum sie bei guter Intelligenz Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte. Ihr Mann hatte nicht die Geduld mit ihr, darum wurde die Schwäche nie richtig bewältigt. Er meinte häufiger, sie wäre zu dumm dazu, Lesen und Schreiben richtig zu beherrschen. Ihr Mann war Ingenieur im Maschinenbaubereich, er konnte es nicht nachempfinden. Dazu schien ihm das Einfühlungsvermögen zu fehlen, was mit Sicherheit einige Konflikte in der Familie brachte. Trotzdem gab es keinen offenen Umgang im familiären Umfeld von Frau W. mit der Schwäche. Sie erfuhr im Laufe der Zeit durch Medienberichte, dass diese Probleme „Legasthenie“ hießen.

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Nun versuchte sie das Thema für sich aufzuarbeiten, durch die Rente hat sie Zeit dafür. 2010 meldete sie sich bei einer staatlichen Anlaufstelle für funktionale Analphabeten und bekam einen Lehrgang bei einem kommerziellen Träger, der Maßnahmen für diese Zielgruppe anbot. Sie ging freiwillig in den Kurs und wollte etwas lernen. Aus der Praxis wissen wir, dass funktionale Analphabeten eine komplexe Zielgruppe sind, für die es bis heute kaum wirksame Maßnahmen gibt, um diese Menschen zu integrieren. So beschreibt es die Fachwelt und wir beobachteten in unserer Arbeit in Dresden einige Erwachsene, die mit ähnlichen Maßnahmen nicht zufrieden waren. Dies hinterließ den Eindruck, dass Betroffene sich mehr von diesen Hilfsmaßnahmen erhofften. Diese Eindrücke können aber nicht auf die Gesamtsituation übertragen werden.

Wir haben den Eindruck, dass diese Maßnahmen für funktionale Analphabeten selten auf ihre Qualität hin evaluiert sind. Denn das Milieu dieser Gruppe ist multikausal. Die Biografie unserer Rentnerin zeigte: Die Schwierigkeiten bei den Teilnehmern der Maßnahme waren sehr unterschiedlich. Nicht wenige waren langzeitarbeitslose Alg II-Bezieher, die von ortsansässigen Jobcentern diese Maßnahme zugewiesen bekamen.

Sie war die Einzige im Kurs, die aus dem aktiven Arbeitsleben kam. Sie besuchte den Kurs mit der Hoffnung, Hilfe zu erhalten. Die Erwartungen erfüllten sich nicht, obwohl sie ein Zertifikat erhielt, dass sie an diesem Kurs erfolgreich teilgenommen hatte. Der Kurs dauerte 12 Monate, das Resultat des Kurses ist unklar.

Frau W. liest auch nach dem Kurs sehr stockend auf dem Niveau eines Grundschülers. Auch das Handschriftliche geht sehr mühsam.

Uns ist aufgefallen, dass legasthene Menschen immer wieder mit funktionalen Analphabeten verwechselt werden. Über das Phänomen dieser Gruppe von Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen mit dem Lesen und Schreiben schwertut, streitet sich die Fachwelt schon viele Jahre. Denn viele Ursachen haben scheinbar mit sozialer Ungleichheit zu tun, aber nichts mit Legasthenie.

Nun hat sich Frau W* entschlossen, eine Einzelförderung an unserem Institut zu machen. Da die Rentnerin nur eine geringe Rente erhält, bekommt sie an unserem Institut für ein geringes Entgelt Unterstützung. Die Maßnahme wird 24 Monate dauern, wir sind sehr gespannt, wie sich die Seniorin entwickeln wird. Dieser Bereich ist in der Legasthenieforschung noch gänzlich unbekannt.

Wir werden weiter darüber berichten und sind gespannt, welche neuen Erkenntnisse wir beobachten werden.

*Frau W. ist die anonymisierte Kürzung des Namens der Seniorin.

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