Wie sich die aktuelle Corona-Krise auf unsere Gesellschaft insgesamt und speziell auf unsere heranwachsenden Kinder auswirken wird, kann man jetzt noch nicht endgültig einschätzen. Aber es gibt bereits erste sozialwissenschaftliche Analysen, die wir mit unseren Erfahrungen bei Kindern mit LRS und Legasthenie verifizieren können. Die Covid-19-Krise ist für den größten Teil der Gesellschaft eine enorme Herausforderung. Jetzt haben wir ein halbes Jahr lang Erfahrungen damit gemacht, wie eine Kindheit in Zeiten von Corona verlaufen kann. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Krise auf die heranwachsenden Generationen auswirken wird. Aber sie wird deutliche Folgen haben, das ist schon heute in der Fachwelt unumstritten.

Dazu wollen wir einige Beobachtungen und Erfahrungen aus unserer Arbeit mit Familien und betroffenen Kindern beschreiben. Die Auswirkungen des Lockdowns werden als gravierende Eingriffe in das Leben vieler Kinder weltweit erlebt. Auch in unserem wohlhabenden Deutschland erleben Kinder durch die Kontaktbeschränkungen einen geringeren emotionalen Austausch mit ihren Eltern und anderen Bezugspersonen wie Lehrern, Freunden und anderen Verwandten wie Großeltern etc. Hinter verschleiernden Masken können die Kinder nur schwierig emotionale Gesichtsregungen erkennen, damit sind emotionaler Austausch und Interaktion nur in geringem Maße möglich. Schon für einen Erwachsenen ist es schwer zu interpretieren, ob ihn sein Gegenüber mit seiner Maske freundlich oder ernst ansieht. Für Kinder ist das noch viel schwieriger und es kann sie überfordern. Das betrifft insbesondere Personen wie Großeltern, Lehrer und Erzieher, zu denen die Kinder eine wichtige Bindung haben. Dazu kamen während des Lockdowns eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, gesperrte Spielplätze und Kontaktbeschränkungen zu gleichaltrigen Freunden. Es ist davon auszugehen, dass die Zeit des Lockdowns Verunsicherung in die Kinderseelen brachte. Dabei gab es deutliche Unterschiede zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familienverhältnissen. Die Kinder haben den 6-wöchigen Unterrichtsausfall in unterschiedlichem Maße erlebt. Schwierig wurde es vor allem bei Familien, deren Eltern keinen Heim-PC besitzen oder während dieser Zeit keinen Kontakt zur Schule hatten. Die technischen Voraussetzungen in den Familien sind sehr unterschiedlich. Das beobachtete man auch bei Familien der Mittelschicht, die häufig mit dem Homeschooling der Kinder und der eigenen Situation im Home Office überfordert waren.

Sozial schwache Familien erlebten diese Anti-Corona-Maßnahmen wesentlich gravierender als die bessergestellten Familien der mittleren und oberen Schichten. Kinder mit Lernschwächen mussten während dieser Zeit die Lerntherapie unterbrechen, da sich ihre Eltern nicht mehr meldeten oder sie keinen Computer hatten, um an einer Online-Notbetreuung teilzunehmen. Bei diesen Kindern sind in den letzten Monaten die Lernfortschritte stagniert oder ihre Leistungen sind zum Teil schlechter geworden. Bessergestellte Familien waren häufiger in der Lage, ihre Kinder an der Notbetreuung teilnehmen zu lassen. Zum Teil konnten die Kinder diese Zeit sogar intensiver für diese Zwecke nutzen als vor dem Lockdown. Trotz der Beschränkungen erhielten Kinder in stabilen Kernfamilien eine intensivere Förderung und Zuwendung, da ihre Eltern mehr Zeit für sie hatten. Dagegen erlebten Kinder in angespannten Familienverhältnissen (Patchwork-Konstellationen oder getrenntlebende Elternteile) eine große Belastung. Manche Eltern kamen dabei zum Entschluss sich zu trennen. Insgesamt hatten die Einschränkungen durch die staatlichen Maßnahmen häufig starke Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehungen und auf die soziale Familienverhältnisse im Allgemeinen. Das betrifft sowohl Familien der Mittelschicht als auch ganz besonders die sozial benachteiligten Familien.

Es ist denkbar, dass sich die psycho-emotionalen Probleme der Kinder mit Lernschwächen durch die derzeitige Covid-19-Krise ausweiten werden. Die Zukunft wird uns zeigen, inwieweit sich die aktuelle Lage auf die emotionale Entwicklung der Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwächen auswirkt. Der Schulausfall durch den Lockdown wirkt sich natürlich auch auf den Schriftspracherwerb der Kinder aus. Besonders bei sozial benachteiligten Familien mit Kindern, die langsamer in ihrer sprachlichen Entwicklung sind, kann von deutlichen Rückschritten in der Entwicklung ausgegangen werden. Diese müssen durch gezielte Lerntherapien kompensiert werden. Offen bleibt, ob diese Kinder von staatlicher Seite Hilfen zur Eingliederung erhalten. Die Corona-Krise wird sehr wahrscheinlich die Ungleichheit und den Abstand von bildungsnahen und bildungsfernen Familien verstärken. Es ist kaum zu erwarten, dass das Gemeinwesen allen benachteiligten Kindern eine adäquate Förderung zukommen lässt. Man sollte sich in diesem Fall keiner Illusion hingeben. Historisch gesehen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die schwächeren Teile der Gesellschaft solche Krisen als biografisch prägende Erfahrungen erleben und das mit allen negativen Begleiterscheinungen. Instabile Verhältnisse in Familien sind deutliche Stressoren und werden durch diese Krisen noch verstärkt.

Erste sozialwissenschaftliche Aufsätze weisen darauf hin, dass sich die Corona-Krise stark auf die Entwicklung und die Probleme der Kinder auswirken wird. Da diese Krise noch lange nicht zu Ende ist, sind ernsthafte Prognosen schwer zu erstellen. Je länger die Krise andauert, desto größer werden die psychosozialen Schäden für unsere Gesellschaft sein.

Literatur

Klitzing, Kai von (2020). Kindheit in Zeiten von Corona. In: Bernd Kortmann/Günther G. Schulze (Eds.), Jenseits von Corona (21-30). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839455173-003

Lindemann, Gesa (2020). Der Staat, das Individuum und die Familie. In: Michael Volkmer/Karin Werner (Eds.), Die Corona-Gesellschaft (253-262). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839454329-025