Ein fachlicher Kommentar des Legasthenie‑Experten Lars Michael Lehmann
Förderung nach dem §35a SGB VIII zu erhalten, ist immer wieder ein Thema bei Familien mit LRS-Kindern. Ich arbeite seit fast 20 Jahren als Experte für Legasthenie und erlebe immer wieder, dass Familien verzweifelt nach staatlicher Unterstützung für Lerntherapien suchen. Wie die Behörden die Sozialgesetzgebung im Bereich § 35a VIII SGB VIII bei einer diagnostizierten seelischen Behinderung anwenden, ist selbst für Fachleute, die regelmäßig mit dieser Problematik konfrontiert sind, kaum nachvollziehbar – selbst dann, wenn aus unserer Sicht die Erfolgsaussichten groß wären, weil das Kind von einem Fach‑ bzw. Amtsarzt eine LRS‑ bzw. Legasthenie‑Diagnose erhalten hat und wir die Notwendigkeit einer Förderung bestätigen können.
Der aktuelle Fall für LRS-Förder nach 35a SBG VII
Vor Weihnachten haben wir erneut einen Fall mit der 10‑jährigen Sara erlebt. Sie besuchte bereits einen LRS‑Stützpunkt in Dresden und war dort in einer speziellen LRS‑Klasse. Aufgrund einer sehr schweren Form der LRS erzielte sie jedoch kaum Lernfortschritte. Nach Abschluss der Klassen 3.1 und 3.2 waren die Fortschritte weiterhin minimal und ließen sich in unseren Tests nicht nachweisen. Trotzdem bestand nach wie vor eine schwere LRS, die mit ihrer kindlichen Entwicklung zusammenhing.
Aufgrund unserer Erfahrung mit den örtlichen Ämtern in Dresden hatten wir Zweifel, dass Sara trotz ihres nachweislichen Bedarfs öffentliche Förderung erhalten würde. Die Eltern stellten dennoch einen Antrag beim Amtsarzt, der eine Kostenübernahme der Lerntherapie beantragte. Der Vorgang zog sich mehrere Monate hin. Obwohl der Amtsarzt einen Verdacht äußerte, dass Saras Probleme weiterhin bestehen, wurde der Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Probleme seien nicht so gravierend und das Kind sei gut im sozialen Umfeld integriert. Daraufhin verweigerte das örtliche Jugendamt die Kostenübernahme.
Warum werden Anträge so häufig abgelehnt?
- Finanzielle Engpässe der Kommunen Die Leistungen nach § 35a VIII sind kommunale Ausgaben. Viele Städte – insbesondere Dresden – kämpfen derzeit mit knappen Kassen, was die Bereitschaft, zusätzliche Mittel für Lerntherapien bereitzustellen, stark einschränkt.
- Restriktive Auslegung der Rechtsgrundlage Die Formulierung von § 35a VIII lässt viel Interpretationsspielraum. Viele Jugendämter setzen sehr hohe Evidenz‑Schwellen (z. B. signifikante Abweichungen in standardisierten Tests) und verlangen zudem eine klare Prognose über den Nutzen der Maßnahme. Ohne einen bundeseinheitlichen Kriterienkatalog entstehen dadurch regionale Unterschiede und häufig ablehnende Entscheidungen.
- Komplexe und langwierige Antragsverfahren
- Mehrere Gutachten (Arzt, Psychologe, ggf. ein zweiter unabhängiger Gutachter) sind oft Voraussetzung.
- Die Bearbeitungsdauer beträgt häufig mehrere Monate, was Familien zusätzlich belastet.
- Ablehnungsbegründungen bleiben häufig vage („nicht ausreichend gravierend“), sodass Betroffene kaum nachvollziehen können, welche konkreten Defizite noch zu beheben wären.
- Kurzfristige Erfolgserwartungen der Behörden Oft wird erwartet, dass innerhalb weniger Monate messbare Fortschritte erzielt werden, obwohl evidenzbasierte Lerntherapien erst nach 6–12 Monaten signifikante Verbesserungen zeigen.
- Unzureichende Berücksichtigung von Komorbiditäten Begleiterkrankungen wie ADHS oder emotionale Störungen werden nicht immer ausreichend in die Bewertung einbezogen, obwohl sie die Lernschwierigkeiten verstärken.
Konsequenzen für betroffene Familien
- Selbstfinanzierung: Da die Lerntherapie weder von der gesetzlichen Krankenkasse (sie gilt als pädagogisch‑psychologische Maßnahme) noch von den Jugendämtern übernommen wird, müssen viele Familien die Kosten selbst tragen.
- Ungleichheit: Familien mit höherem Einkommen können sich private Förderungen leisten, während sozial schwächere Familien häufig ohne adäquate Unterstützung bleiben.
- Langfristige Folgen: Unzureichende Förderung erhöht das Risiko von Schulabbrüchen, geringeren Berufschancen und psychischen Belastungen.
Ausblick und Reformbedarf im Bereich SGB VIII
Meiner Einschätzung nach wird sich die Situation in den kommenden Jahren nicht grundlegend verbessern, solange:
- § 35a VIII weiterhin als kommunale Leistung ohne bundeseinheitliche Vorgaben bleibt.
- Kommunale Haushalte weiterhin stark belastet sind und Sparmaßnahmen priorisieren.
Um die Lage zu ändern, wären tiefgreifende Reformen nötig, zum Beispiel:
- Einführung eines bundeseinheitlichen Kriterienkatalogs für die Leistungsgewährung.
- Einrichtung von Fördertopf‑Programmen auf Landes‑ oder Bundesebene, um die finanzielle Belastung der Kommunen zu reduzieren.
- Frühinterventionsmodelle (z. B. verpflichtende LRS‑Screenings in Kindergärten) zur frühzeitigen Erkennung und damit verbundenen Kosteneinsparungen.
- Kooperation mit den Krankenkassen, um zumindest einen Teil der Therapie kostenübernimmt.
Fazit
Der geringe Anteil von Kindern, die tatsächlich Leistungen nach § 35a VIII SGB VIII erhalten, resultiert aus einer Kombination von finanziellen Engpässen, uneinheitlicher Rechtsauslegung, administrativen Hürden und fachlichen Bewertungsunterschieden. Ohne klare gesetzliche Vorgaben und eine gesicherte Finanzierungsbasis wird sich die Situation voraussichtlich nicht wesentlich verbessern. Familien bleiben daher gezwungen, die notwendige LRS‑Förderung aus eigener Tasche zu finanzieren – ein Umstand, der dringend politisches Handeln erfordert.

