In unserer heutigen schnelllebigen Welt, in der Technologie und Bildschirme allgegenwärtig sind, geht eine wichtige Tradition leider zunehmend verloren: das Vorlesen für Kinder. Eine Umfrage der Stiftung Lesen hat erschreckende Ergebnisse zutage gebracht, die darauf hinweisen, dass in immer weniger Familien Gute-Nacht-Geschichten zum Einschlafen gehören. Fast 40 Prozent der Kinder zwischen einem und acht Jahren werden nie oder nur selten vorgelesen. Diese beunruhigende Entwicklung hat weitreichende Auswirkungen auf die Bildungschancen unserer jüngsten Generation und sollte dringend in den Fokus gerückt werden.

Die Umfrageergebnisse, die im November 2022 veröffentlicht wurden, sind besorgniserregend. Sie zeigen, dass jedem fünften Kind zwischen einem und acht Jahren in seiner Familie nie vorgelesen wird. Noch erschreckender ist, dass in fast 40 Prozent der Familien mit Kindern in diesem Altersbereich aktuell wenig oder gar nicht vorgelesen wird. Verglichen mit einer ähnlichen Umfrage aus dem Jahr 2019, in der der Anteil der Eltern, die wenig oder gar nicht vorlesen, bei 32 Prozent lag, deutet dies auf einen alarmierenden Anstieg hin.

Ein weiterer interessanter Aspekt der Umfrage ist die Geschlechterverteilung beim Vorlesen. Die Studie zeigt, dass Mütter ihren Kindern häufiger vorlesen als Väter. Dies könnte auf traditionelle Rollenmuster oder auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass Mütter oft mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Darüber hinaus ergab die Umfrage, dass Familien mit tendenziell geringerem Bildungsniveau seltener vorlesen als Familien mit höherer formaler Bildung. In 31 Prozent der Familien, in denen die Eltern einen Volks- oder Hauptschulabschluss oder sogar keinen Abschluss haben, wird den Kindern nie vorgelesen. Im Gegensatz dazu liegt dieser Anteil bei Familien, in denen die Eltern einen höheren Bildungsabschluss wie das Abitur haben, bei nur 18 Prozent.

Interessanterweise spielt der Migrationshintergrund der Eltern laut der Stiftung Lesen weniger eine Rolle als die damit oft einhergehende formale Bildung. Das bedeutet, dass die Bildung der Eltern einen signifikanteren Einfluss auf das Vorleseverhalten hat als der kulturelle Hintergrund.

Ein besonders bedenklicher Trend ist, dass seit 2019 der Anteil der Kinder, denen nie vorgelesen wird, mehr als verdoppelt hat. Gleichzeitig ist der Anteil der Mädchen und Jungen, denen ein- oder mehrmals pro Tag vorgelesen wird, stabil geblieben. Die Umfrage zeigt auch, dass am häufigsten den Zwei- bis Vierjährigen vorgelesen wird. Mit dem Schuleintritt steigt der Anteil der Kinder, denen nie vorgelesen wird, stark an und erreicht bei den über Achtjährigen mehr als die Hälfte. Diese abrupte Veränderung im Vorleseverhalten von der Vorschulzeit bis zur Grundschulzeit kann bei Kindern Frustrationen hervorrufen und ihre Motivation zum Lesen erheblich hemmen.

Die Ergebnisse der Umfrage haben nicht nur Auswirkungen auf das Lesenlernen, sondern auch auf die Bildungschancen der Kinder. „Die Fähigkeit, fließend zu lesen, entscheidet über den gesamten Bildungs- und Arbeitsweg“, warnte Bildungsstaatssekretär Jens Brandenburg (FDP) bei der Vorstellung der Studie. Es geht nicht nur um das reine Lesen, sondern auch um das Verständnis von Texten, sei es in Mathematikaufgaben in der Schule, beim Lesen von Busfahrplänen oder Mietverträgen. Das Lesenlernen beginnt nicht in der Schule, sondern im Elternhaus. Wenn Kindern nicht ausreichend vorgelesen wird, können sie Schwierigkeiten haben, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren.

Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklung ist es von entscheidender Bedeutung, das Vorlesen als wertvolle Tradition wiederzubeleben und zu fördern. Eltern, Bildungseinrichtungen und die Gesellschaft insgesamt müssen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass jedes Kind die Möglichkeit erhält, in die Welt der Bücher einzutauchen und seine Bildungschancen zu maximieren. Das Vorlesen für Kinder ist nicht nur eine liebevolle Geste, sondern auch ein wichtiger Schritt in Richtung einer erfolgreichen Zukunft für unsere Kinder.

Quelle: Immer weniger Eltern lesen ihren Kindern vor | tagesschau.de