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Ein Studium ist für einen Legastheniker eine große Herausforderung. Aus unserer langjährigen Arbeit mit den Betroffenen wissen wir, dass sich dieses Studium auf sehr unterschiedliche Art und Weise entwickeln kann.

In den 16 Bundesländern ist nicht einheitlich geregelt, wie der Nachteilsausgleich mittels eines Legasthenie-Attestes an Universitäten und Hochschulen prüfungsrechtlich angewandt wird. Das kann dazu führen, dass dies an jeder Fakultät innerhalb einer Universität oder sogar je nach Dozent und Professor unterschiedlich gehandhabt wird. Außerdem gibt es sehr verschiedene Kenntnisstände der Hochschullehrer zu dieser Problematik.

Einerseits gibt es ganz pragmatische Umgänge mit der Problematik, bei denen die Legasthenie- bzw. LRS-Atteste berücksichtigt werden. Anderenorts ist man sehr konservativ und stellt häufig die persönliche Studienreife und Intelligenz der Studenten infrage.

Auch die individuellen Schulbiografien der Betroffenen und die Bewältigung ihrer Legasthenie haben einen großen Einfluss darauf, wie einfach oder kompliziert das Studium für sie sein kann. Denn auch legasthene Menschen sind keine homogene Gruppe. Da die Ursachen und Fallverläufe bei legasthenen Studenten vielfältig sind, ist ein Legasthenie-Attest (mit seelischer Behinderung laut ICD-10) umstritten, um an einer Universität mit Nachteilsausgleich studieren zu dürfen. 

Universitäten fordern häufig Legasthenie-Attest mit Krankheitswert

Häufig werden an den Universitäten und Hochschulen die Begriffe Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) und Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) gleichbedeutend verwendet, obwohl in der Fachwelt angenommen wird, dass es sich hierbei um verschiedene Schwächen handelt. Vielen Betroffenen ist die Tragweite ihrer Einstufung nicht bewusst oder sie scheuen sich davor, als psychisch gestört eingruppiert zu werden. Das ist aus der Sicht der Betroffenen sehr verständlich. Denn wer will zu einer seelischen Behinderung stehen, wenn es bisher nur wenige wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass diese Schwierigkeiten automatisch zu einer seelischen Problematik führen müssen. Richtig ist, dass viele Erwachsene aufgrund ihrer nicht bewältigten Legasthenie oder LRS psychische Schädigungen davongetragen haben. Aber nicht alle Betroffenen sind seelisch erkrankt, diese Verallgemeinerung existiert so nicht.

Ob ein akademischer Weg gelingt, liegt an der eigenen Bewältigungskompetenz

Entsprechend ihrem Hintergrund werden betroffene Erwachsene psychische Probleme davongetragen oder sich trotz ihrer Legasthenie stabil entwickelt haben. Das liegt nicht zuletzt an der Förderung und Kompensation der Schwächen in der Kindheit. Entsprechend kann die psycho-soziale Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinein ablaufen und die Basis für einen mehr oder weniger gelingenden akademischen Weg legen.

Hier müssen weitere soziale Aspekte eine Rolle spielen, ob Erwachsene ein Studium bewältigen können oder durch eine psychische Instabilität dabei scheitern werden. Psychische Probleme entstehen bei den Betroffenen nicht wegen ihrer Legasthenie, sondern sie liegen an ihrer individuellen Fallentwicklung, die im engen Zusammenhang mit der Kindheit und dem sozialen Umfeld steht.

Der Bundesverband Legasthenie fordert, dass alle Betroffenen eine seelische Behinderung (nach ICD-10) nachweisen müssen, um einen Nachteilsausgleich zu erhalten. Diese Herangehensweise ist wie bei vielen anderen, genauso schwer einzugrenzenden, seelischen Behinderungen sehr umstritten. Es mag bei einzelnen Fällen mit Legasthenie Sinn machen, diese als seelisch behindert einzustufen. Das trifft aber nicht auf alle Betroffenen zu. Deshalb muss diese Herangehensweise Kritik aus menschenrechtlicher und ethischer Sicht aushalten.

Wir fordern schon lange, dass die Lese-Rechtschreibung-Störung aus dem Krankheitsregister psychischer Krankheiten (lt. ICD-10) gestrichen werden soll. Denn der Nutzen einer Diagnose Lese-Rechtschreib-Störung als Anreiz für eine positive Bewältigung dieser ändert selten etwas am Ist-Zustand der Betroffenen. Eine Störung mit Krankheitscharakter, wie man die Legasthenie im medizinischen Kontext umschreibt, wird beim Betroffenen nicht den Willen zur Kompensation auslösen, sondern eher Lethargie und wenig Bereitschaft, selbst etwas gegen seine Schwäche zu unternehmen. Wir haben schon einige Erwachsene erlebt, die mit dieser Diagnose keinen eigenen Willen und keine eigene Bewältigungskompetenz entwickelt haben. Viele fühlen sich so einer Diagnose hilflos ausgeliefert, weil man scheinbar eine nicht zu bewältigende Krankheit hat, die man mit Eigenmotivation und Mut zur Selbsthilfe nicht bewältigen kann. Das macht die Betroffenen unreflektiert zu therapiebedürftigen Subjekten, die Hilfe vom Gemeinwesen verlangen, statt eigenverantwortlich ohne staatliche Hilfe die Probleme zu bewältigen.

Häufig brachte Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII wenig Bewältigungseffekte

Uns sind Fälle von Erwachsenen bekannt, die in der Kindheit über den §35a SGB VIII durch das Jugendamt eine Therapie erhalten haben. Diese Eingliederungshilfe wird meistens über ein bis zwei Jahre von den Ämtern gewährt. Dies hängt oft vom Sozialetat der Kommune ab, in der die Betroffenen aufwachsen. Ein weiterer Aspekt ist die Qualität der Förder- oder Therapieangebote. Bisher gibt es keine Studien, wie gut die Förderangebote der Ämter sind. Wahrscheinlich gibt es im Bundesgebiet größere Unterschiede dabei. In den meisten Fällen haben wir keine deutlichen Kompensationseffekte feststellen können, sodass Betroffene von diesen Maßnahmen profitiert hätten. Die Gründe dafür sind bisher unklar.

Soziale Ungleichheit spielt auch bei Studenten mit Legasthenie eine Rolle

Familien, die ihren Kindern eine private Förderung häufig über die gesamte Schulzeit finanzieren konnten, haben die Probleme oft besser bewältigen können. Hier wird deutlich, dass das Thema soziale Ungleichheit und unterschiedliche Bildungschancen auch bei der Bewältigung der Legasthenie eine wichtige Rolle spielt. Bei guter Förderung werden die Betroffenen ihre Bildungschancen ausbauen. Ansonsten erhalten sie keine Chancen und entwickeln ohne Förderung und Bewältigungshilfe erst recht seelische Krankheiten. Dementsprechend wird dann die berufliche und persönliche Entwicklung der Betroffenen nicht ohne Hürden verlaufen.

Man darf auch nicht den sozialen Hintergrund der Betroffenen vernachlässigen. Wir haben ungleiche Aufstiegschancen in unserer Gesellschaft, die mit der sozialen Herkunft und Bildung der Elternhäuser zusammenhängen. Dementsprechend werden legasthene Menschen die Chance haben, ihre Probleme zu bewältigen oder deswegen sozial benachteiligt werden. In der praktischen Arbeit mit den Betroffenen fällt uns dies deutlich auf. Je nach ihrem Hintergrund können Legastheniker gut im Leben klarkommen oder sie fallen häufig durch das soziale Raster unseres Gemeinwesens.

Die Digitalisierung unserer Arbeitswelt wird die soziale Ungleichheit noch deutlicher werden lassen. Vermutlich wird es zu deutlichen Verwerfungen und sozialen Problemen für die Betroffenen kommen, weil Lese-Rechtschreib-Schwächen und deren Bewältigung in engem Zusammenhang mit sozialer Armut und niedrigen Bildungschancen stehen. Das hat auch Auswirkungen auf die Studienmöglichkeiten von Legasthenikern.

Die heutige Situation ist dringend reformbedürftig. Wir benötigen eine differenziertere Herangehensweise anstatt der stereotypischen Annahme einer seelischen Behinderung, die aber nicht auf alle Betroffenen zutrifft. Erwachsene Legastheniker mit seelischen Folgekrankheiten sollen die bestmögliche Hilfe erhalten. Wer seelisch stabil und gesund ist, benötigt andere individuelle Hilfen zur Kompensation und als Prävention vor seelischen Krankheiten.

Wenn man sich alle dargelegten Zusammenhänge genauer ansieht, wird deutlich, warum es für Betroffene nicht einfach ist, einen akademischen Weg einzuschlagen. Häufig liegt das an der individuellen Bewältigung der Legasthenie oder dem sozioökonomischen Hintergrund der Herkunftsfamilie. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir ungleiche Aufstiegschancen in Deutschland haben, d.h. die Herkunft und die Bildung der Eltern spielen für die Bildung und Karriere der Kinder und Jugendlichen eine wesentliche Rolle. Dies kann man von der Allgemeinheit auch auf den Personenkreis der Betroffenen mit Legasthenie oder anderen Lese-Rechtschreib-Schwächen übertragen. Diese haben bei einem ungünstigen sozialen Hintergrund noch weniger Chancen im Leben.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Betroffenen bei dieser Herangehensweise (Legasthenie oder LRS als Krankheit mit seelischer Behinderung zu bezeichnen) eine Chance haben, aus dem Teufelskreis der Lernstörungen herauszukommen. Denn die Legasthenie ist kein Grund, diese Menschen als Behinderte zu deklarieren. Sie brauchen pragmatische Hilfe zur Bewältigung ihrer Schwächen, die wahrscheinlich ohne Zutun der Zivilgesellschaft nicht möglich sein wird. Denn die Praxis zeigt uns, dass unser Gemeinwesen mit dieser Aufgabe überfordert ist. Deshalb sind mündige Selbsthilfe und eigenes Engagement gefragt. Einen anderen Weg wird es nicht geben.