Warum ist die Winkelfehlsichtigkeit bei Kindern mit LRS oder Legasthenie umstritten? Immer wieder berichten uns Eltern, dass ihre Kinder bei einem Funktionaloptometristen (Augenoptiker mit Zusatzausbildung) eine Winkelfehlsichtigkeit diagnostiziert bekommen haben. Sie soll die Ursache für eine LRS oder Legasthenie sein, die Schielprobleme sollen das Lesen und Schreiben beeinträchtigen. Diese Kinder klagen häufig über Kopfschmerzen, Bauchweh und Konzentrationsprobleme. Als Lösung bieten Optiker spezielle Prismenbrillen an, um die Winkelfehlsichtigkeit zu berichtigen. In diesem Fachaufsatz gehen wir auf diese Problematik ein, wie wir sie hier in Dresden und Umland in den letzten Jahren beobachtet haben.

Was bedeutet der Begriff Winkelfehlsichtigkeit? Und was sind die Ursachen?

Als Winkelfehlsichtigkeit wird in der spezialisierten Augenoptik (Funktionaloptometrie) ein latentes (auch: verstecktes) Schielen bezeichnet, das sich nach Auffassung von Hans-Joachim Haase von den anderen latenten Schielformen unterscheiden soll. Haase hat als Augenoptiker und Uhrmacher den Speziellen Haase-Test / Pola-Test als Mess- und Korrekturmethode (MKH) entwickelt, der die in der Fachwelt unter Augenärzten äußerst umstrittene und kontrovers diskutierte „Winkelfehlsichtigkeit“ feststellen soll.

Bei der Winkelfehlsichtigkeit soll es sich um eine optische Problematik handeln, analog der Weit-, Kurz- oder Stabsichtigkeit. Dabei vermutet man eine Störung des beidäugigen Sehens, die durch „Bildlagefehler“ mit Abweichen der Sehachsen beider Augen ein verstecktes Schielen hervorrufen kann. Diese können zu fusionaler Belastung oder besser erklärt zu visuellem Stress führen; dadurch sollen Problemen beim Lesen und Schreiben verursacht werden. Typische Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel, Augenbrennen, Verschwommensehen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Mit Prismenbrillen will man diese Fehlsichtigkeit kompensieren, um die abweichende Objektabbildung zu korrigieren. Häufig erhalten die Kinder dazu ein visuelles Funktionaltraining, um die Sichtigkeit und die Symptomatik auszugleichen.

Bis heute gibt es keine Belege der Winkelfehlsichtigkeit durch wissenschaftliche Studien. Die Augenheilkunde sieht diesen Bereich häufig als ein Pseudo-Phänomen. Für die evidenzbasierte Augenheilkunde und den Großteil der Augenoptiker existiert diese Problematik nicht neben anderen Augenkrankheiten, die ebenso Fehlsichtigkeit und Schielen hervorrufen können. Die Heterophorie zum Beispiel geht ebenso mit einer Fixationsdisparität einher, diese Augenkrankheit kann mit Prismenbrillen korrigiert werden. Sie ist ein anerkanntes Krankheitsbild der Augenheilkunde, das von einem Augenarzt diagnostiziert werden muss.

Seriöse Augenheilkundler und Legastheniespezialisten warnen Eltern vor der Diagnose Winkelfehlsichtigkeit. Aus Sicht der Legasthenieforschung handelt es sich bei der Winkelfehlsichtigkeit um ein erfundenes Krankheitsphänomen, dass nicht im Zusammenhang mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche steht. Ärzte weisen darauf hin, dass die Eltern diese Diagnose kritisch hinterfragen sollten. Bei Augenproblemen sollten Eltern immer zu einem Augenarzt gehen.

Warum gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Winkelfehlsichtigkeit und den Lese-Rechtschreib-Schwächen?

  1. Eine Winkelfehlsichtigkeit ist schwer festzustellen, es werden auch methodische Messfehler diskutiert.
  2. Die evidenzbasierte Forschung konnte bisher keine Belege für die Methodik und Wirksamkeit des Pola-Tests nach Haase belegen.
  3. Es gibt bisher keine Belege durch Studien, die einen Nutzen einer Prismenbrille bei Legasthenikern und Kindern mit LRS nachweisen würden.
  4. Tiefgründigere Testungen einer LRS oder Legasthenie werden vermieden und die Probleme häufig nicht richtig erkannt. Lese-Rechtschreib-Schwächen benötigen tiefgründige Diagnostiken aus medizinischer und pädagogischer Sicht, ein Augentest allein ist zu wenig.
  5. Lese-Rechtschreib-Schwächen haben nicht nur mit Sehproblemen zu tun, sondern sind wesentlich komplexer.
  6. Es gibt durch Studien belegte kleinste Blicksprünge (Sakkaden), welche visuelle Probleme bei LRS (Leseprobleme) herbeiführen können. Diese werden beim Pola-Test nicht überprüft. Sie können aber durch das Blicklabor nach Prof. Fischer geprüft werden. Deren Ursachen wurden in umfangreichen Studien belegt.
  7. Es ist nicht bewiesen, dass es einen Zusammenhang der geschilderten Beschwerden wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsprobleme mit einer Winkelfehlsichtigkeit bei gleichzeitiger LRS und Legasthenie gibt.

Kurz zusammengefasst: Die Diagnose Winkelfehlsichtigkeit ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht bewiesen. Kinder, die Probleme mit den Augen haben, können natürlich auch Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben entwickeln. Aber es ist nicht bewiesen, dass ein verstecktes Schielen eine Hauptursache dafür sein kann. Es gab in den 90er Jahren mehrere Studien, ob Prismenbrillen bei Legasthenie oder LRS die Probleme abmindern könnten. Wissenschaftler haben dabei keine Unterschiede erkannt, ob Kinder eine Prismenbrille trugen oder nicht.

Aus Studien ist bekannt, dass es bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwächen Schwierigkeiten in der Seh- und Hörverarbeitung geben kann. Häufig stehen beide Bereiche im Zusammenhang, denn der reibungslose Lese-Schreib-Prozess muss visuell und akustisch im Sprachzentrum verarbeitet werden. Dies ist unabhängig von organischen Krankheiten der Augen und Ohren, weil es sich hierbei um neurologische Besonderheiten handeln kann.

Darum sind optometrische Untersuchungen bei einem Augenoptiker ohne vorherige Untersuchung beim Augenarzt bei einer vermuteten LRS oder Legasthenie nicht zu empfehlen. Funktionaloptometrie macht bei einer Heterophorie Sinn. Mit der Diagnose Winkelfehlsichtigkeit und entsprechend teuren Prismenbrillen (sie kann bis 300,- Euro kosten) ist keine Verbesserung zu erwarten, denn es gibt keine Wirksamkeitsnachweise für Funktionaltraining oder Prismenbrillen bei LRS und Legasthenie.