lrs-klassen sind wissenschaftlich umstritten

LRS-Klassen gibt es nur in den neuen Bundesländern

Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern, die unseren Rat haben möchten, ob sie sich für eine LRS-Klasse oder gegen eine solche Sonderklasse entscheiden sollen. Im Bildungswesen kennt man diese Klassen nur in Sachsen und Thüringen. In den anderen Bundesländern kennt man diese exklusiven LRS-Klassen nicht. Dazu gibt es aus der forschenden Praxis einige Argumente gegen diese Separierung in der Grundschulzeit. In diesem Fachaufsatz erklären wir die wissenschaftliche Sicht und die menschenrechtliche und inklusive Perspektive, warum LRS-Klassen umstritten sind.

LRS-Feststellverfahren an Stützpunktschulen sind häufig unzureichend und fehlerhaft

In der Grundschulzeit werden die Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten der Schüler überprüft. Zeigen sich Auffälligkeiten beim Lesen und Schreiben, werden die Kinder ab 2. Klasse, 1. Halbjahr an LRS-Stützpunkte verwiesen. Das geschieht unabhängig davon, ob eine Lese-Rechtschreib-Schwäche aus schulrechtlichen Gesichtspunkten bestätigt werden kann oder nicht. Wird eine LRS bestätigt, empfiehlt man in der Regel den Besuch einer LRS-Klasse ab der 3. Klasse als Dehnungsjahr. In der praktischen Arbeit mit Schülern und Eltern wird deutlich, dass diese Testverfahren nicht selten ungenau sind.

Wir haben schon des Öfteren beobachtet, dass die LRS-Feststellung mit veralteten Tests und Normierungen durchgeführt werden. Es wurden Testverfahren für die LRS-Diagnostik verwendet, die von der Legasthenieforschung nicht für eine Testung empfohlen werden. Hierbei geht es darum, wie alt die Normierungen (Normierungen dürfen nicht älter als 10 Jahren sein!) der Tests sind und wie repräsentativ (für das jeweilige Land oder Bundesland, Stadt sowie Anzahl (N) der Testungen) die Ergebnisse sind.

Erfüllt die Testung nicht die Kriterien, kann es zu Normverschiebungen kommen – was genauer heißt, dass die LRS-Feststellung fehlerhaft sein kann. Betroffene Schüler werden nicht richtig erkannt oder es werden zu viele Schüler als „Auffällig“ getestet. Die Kinder sollten nicht in Gruppen getestet werden, sondern es ist immer eine Einzeltestung statt einer Gruppentestung ratsam, so erhöht man die Konzentration des Schülers in der Testumgebung (Validität) und die Objektivität der Ergebnisse. In Dresden und Sachsen werden die LRS-Feststellungen meistens in Gruppen durchgeführt, so dass aus Sicht der Forschung keine validen und objektiven Ergebnisse möglich sind.

Häufig fehlt im gesamten Feststellungsverfahren eine gründliche Anamnese zu den Ursachen der vermuteten Lese-Rechtschreib-Probleme. Denn es muss im Vorfeld geklärt werden, wie die gesamte Entwicklungsgeschichte des Kindes verlief. Ein häufig vernachlässigter wichtiger Aspekt ist, welches Lernmodell für das Lesen und Schreiben an der Schule angewandt wird. Studien deuten darauf hin, dass das Schweizer-Modell (Schreiben nach Gehör) einer Legasthenie zum Verwechseln ähnliche LRS-Probleme bei Kindern hervorrufen kann. Diese sind gewiss keine Legasthenie, sondern hängen mit der Unterrichtsmethodik und Qualität des Deutschunterrichts zusammen. Leider werden diese Punkte kaum berücksichtigt.

Unseren Erkenntnissen nach gelingt es dem Schulwesen nicht immer, die Probleme der Kinder im Lesen und Schreiben richtig einzuschätzen. Für eine differenziertere Förderung reicht die jetzige Herangehensweise nicht aus. Hier ist dringender Handlungsbedarf im Bildungswesen geboten, denn unsere Kinder sollten eine bestmögliche Förderdiagnostik und Hilfe zur Bewältigung erhalten. Nur so entsteht eine chancengleiche Entwicklung der betroffenen Kinder.

Exklusion in eine LRS-Klasse kann sich negativ auf die seelische Entwicklung auswirken

In Zeiten der Inklusion ist eine Exklusion in eine LRS-Klasse schon aus der Menschenrechtsperspektive umstritten. Diese Separation kann aus dieser Perspektive durchaus als „Verletzung der Menschenwürde“ interpretiert werden. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Wie sollen in einer LRS-Klasse 13 – 14 Kinder mit den unterschiedlichsten Problemen individuell gefördert werden? Vor allem, wenn man sich die Probleme bei der LRS-Feststellung genauer ansieht. Außerdem ist es nicht ratsam, die Kinder aus ihrem gewohnten Lernumfeld herauszunehmen. Es besteht die Gefahr, dass diese Kinder erst recht in ihrer seelischen Entwicklung beeinträchtigt werden, wenn sie signalisiert bekommen, dass mit ihnen etwas nicht „stimmt“ und sie in eine Art Sonderschule müssen. Uns sind einige Erwachsene bekannt, die seelisch unter dieser Situation gelitten haben. Dadurch haben sie bis heute ihre Schwäche nicht bewältigen können. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, ob diese LRS-Klassen überhaupt einen messbaren und nachhaltigen Nutzen haben. Dieser ist bis heute durch keine Studie belegt worden.

Unser Fazit ist:

Aus wissenschaftlichen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten sind LRS-Klassen zwar ein schulpolitisches Förderinstrument. Es gibt aber keine Belege dafür, dass sie einen nachhaltigen Nutzen für die Betroffenen haben. Denn eine LRS-Klasse muss für die betroffenen Schüler qualitativ so nachhaltig sein, dass diese Schwäche damit ausgeglichen werden kann. Viele Berichte von Betroffenen deuten darauf hin, dass die Schwierigkeiten durch den Besuch einer LRS-Klasse nur selten optimal kompensiert wurden. Nicht wenige Erwachsene haben rückblickend noch immer signifikant schlechtere Leistungen im Lesen und Schreiben, sie unterscheiden sich kaum von denen, die keine LRS-Klasse besucht haben.

Wissenschaftlich gesehen sind LRS-Klassen umstritten. Eine Separation sollte zum Wohle des Kindes vermieden werden. Vermeidet man im Kindesalter die Exklusion in eine LRS-Klasse, besteht die Chance, dass sich die Kinder seelisch stabiler entwickeln und ihre Schwäche durch eine individuelle Einzelförderung besser bewältigen können. Ob Eltern sich für eine LRS-Klasse oder dagegen entscheiden, obliegt der Abwägung der Erziehungsberechtigten.

Bildungspolitisch gesehen sollte abgewogen werden, ob diese LRS-Klassen noch zeitgemäß sind und den versprochenen Nutzen erfüllen. Eine Abschaffung dieser Sonderklassen wäre durchaus denkbar und bildungsökonomisch sinnvoll. Dies würde erfordern, dass unser Bildungswesen eine differenziertere Hilfestellung ermöglichen würde, anstatt die Kinder zu separieren.

Weiterführende Fachaufsätze