warum haben erwachsene legastheniker häufig psychische probleme?

Allgemein hat man heute den Eindruck, dass psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft zunehmen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leiden an seelischen Erkrankungen. Auch bei legasthenen Erwachsenen kommt es häufiger vor, dass sie im Erwachsenenalter seelische Probleme haben. Die Ursachen dafür liegen nicht nur in der Legasthenie selbst. Viele dieser Probleme hängen nämlich mit Ablehnungserfahrungen und schulischen Ängsten zusammen, die die Persönlichkeit der Betroffenen schädigen können. Auch Separationserfahrungen durch eine LRS-Klasse können seelische Probleme begünstigen.

Mögliche Ursachen für seelische Schäden in der Kindheit

Die Definition der Lese-Rechtschreib-Störung als medizinisches Störbild umreißt nur die Probleme. Viel wichtiger ist es zu fragen, woher mögliche seelische Erkrankungen herrühren? Wurden sie in der Kindheit im schwierigen elterlichen Umfeld (Scheidung der Eltern, Vernachlässigung, psychische Gewalt, mangelnde elterliche Förderung) oder in der Schule (Klassengröße, Lehrerwechsel, Stundenausfall, Methodik) verursacht? Die sozialen Ursachen werden zwar in der Fachwelt wahrgenommen und erwähnt. Berücksichtigt werden sie in der Diagnostik und Förderung aber selten, weil meistens nur die Symptome erkannt und behandelt werden. Würde man die sozialen Probleme in der Kindheit erkennen und ändern, könnte man viele Betroffene bis in das Erwachsenenalter hinein vor möglichen seelischen Schäden bewahren.

Familie und schulisches Umfeld können seelische Erkrankungen begünstigen

Wir kennen etliche Biografien von Erwachsenen, die in der Kindheit ein problembelastetes Elternhaus hatten. Das betraf auch sozial Benachteiligte, zumeist sind es aber Familien der klassischen Mittelschichten. Wir haben Betroffene erlebt, deren Eltern sich während der Kindheit scheiden ließen. Manchen Kindern fehlte die Zuwendung der Eltern, weil diese im Beruf sehr eingespannt waren. Die Erziehung der Kinder lief dann nebenher. Manche Eltern bieten ihren Kindern nur wenige Lernanreize, dazu spielt ein hoher Medienkonsum eine wichtige Rolle. Nur in wenigen Einzelfällen gab es Vernachlässigung oder physische bzw. psychische Gewalt durch die Eltern. Manche bekamen von ihren Eltern gesagt, dass sie zu dumm zum Lesen und Schreiben lernen seien. Diese verbale persönliche Abwertung kann eine Form seelischer Gewalt sein, die in der Folge zu psychischen Verletzungen und seelischen Schäden führen kann. Mobbingerfahrungen in der Schule verstärken diese Probleme. Mitschüler können manchmal grausam sein, wenn sie ihre Klassenkameraden wegen derer Lernprobleme verbal abwerten. Auch Lehrer können ihre Position als Autorität verfehlen, wenn sie die betroffenen Schüler verbal oder durch Gesten abwerten, wenn sie die Lernprobleme nicht wahrnehmen oder wenig Einfühlungsvermögen zeigen. Diese hier beschriebenen Ursachen können seelische Probleme bis ins Erwachsenenalter begünstigen.

Vermutlich haben 60-70 Prozent der erwachsenen Legastheniker psychische Schäden davongetragen. Dabei ist eine Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht automatisch eine seelische Erkrankung, sondern die persönliche Umwelt trug zu einem Großteil dieser psychischen Erkrankungen bei.

Seelische Probleme sind unabhängig von einer Lese-Rechtschreib-Problematik

Meistens überdecken sie eine Lese-Rechtschreib-Problematik. Psychologen beschreiben häufig, dass betroffene Erwachsene depressive Erkrankungen haben, weil sie ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche in der Kindheit nicht bewältigen konnten. Ähnliche Verläufe erleben wir bei Erwachsenen, die eine LRS-Klasse besuchten und unter der Separation in eine Sonderschule gelitten haben. Ausgrenzungserfahrungen im Bildungswesen oder im familiären Kontext können die Kinderseelen abwerten. Dies hängt mit der psychischen Stabilität zusammen, die sich bei den Kindern in dieser Phase erst noch entwickelt. Es gibt vielseitige Wechselwirkungen, ob Betroffene seelische Probleme bekommen oder nicht.

Durch Kenntnis der sozialen Umwelt kann bei Legasthenie besser geholfen werden

Auch wenn Betroffene eine familiäre Neigung zu Problemen in Schriftspracherwerb haben, heißt das nicht, dass diese Schwierigkeiten nicht in der frühen Kindheit bewältigt werden könnten. Hierbei spiel der sozial-familiäre Kontext der Betroffenen eine maßgebliche Rolle, ob diese Probleme zu einem psychischen Problem werden müssen oder der Betroffene psychisch stabil durch seine Entwicklungsaufgaben gelangt. Deshalb bringt die medizinische Diagnose Lese-Rechtschreib-Störung den Betroffenen wenig Nutzen. Viel wichtiger ist die Kenntnis der sozialen Umwelt. Kann diese in der Kindheit verändert werden, sodass diese Kinder trotz ihrer Lernprobleme in ihrer persönlichen Entwicklung nicht abgewertet, sondern in ihren vorhandenen Ressourcen bestärkt werden, besteht die Chance, dass sie sich wie alle anderen Kinder psychisch stabil entwickeln und keinen Schaden nehmen müssen. Dieser Kontext sollte mehr in den Blickwinkel der Fachwelt rücken.