Legastheniker sollten den Mut haben, sich zu outen

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann (Legasthenie-Experte und Fachjournalist, Legastheniker) 

Auch zehn Jahre nach der Gründung unseres Institutes in Dresden ist das Thema Legasthenie bzw. spezielle Lese-Rechtschreib-Schwäche eines, über das Erwachsene nur ungern sprechen. Dabei haben nach unseren Schätzungen mindestens 15 Prozent aller Erwachsenen eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Wir Legastheniker sind also mit unserer Teilleistungsschwäche nicht allein. Das sollte uns Mut machen, zu dieser Schwäche zu stehen. Sie bedeutet nicht automatisch eine Krankheit. Deshalb sollte sie auch kein Problem für die Integration in Schule und Beruf sein.

Da viele von uns zum Teil vielschichtige Probleme haben, trauen sich nur wenige Betroffene, ihre Schwäche beim Lesen und Schreiben offen einzugestehen oder sich mutig zu outen. Denn das kann zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zu Mobbing im Privatleben oder beruflichen Alltag führen. Ein Grund dafür ist, dass die breite Öffentlichkeit wenig über das Thema Legasthenie weiß. Viele Betroffene akzeptieren jedoch nicht, dass sie als krank oder behindert abgestempelt werden.

Nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in der gesamten westlichen Welt werden Legastheniker oft als krank oder lernbehindert betrachtet. Die USA sind zwar in der neurologischen Forschung weiter, aber die Menschen werden dort genauso stigmatisiert wie in Europa. Die soziale Herkunft der Betroffenen entscheidet häufig darüber, wie man mit der Legasthenie umgeht. Es gibt sehr erfolgreiche Legastheniker wie Bill Gates, Steve Jobs oder den Schweizer Spitzensportler Andrej Ammann. Aber solche Karrieren sind sehr selten zu finden. Wir hätten bestimmt einige erfolgreiche Legastheniker mehr, wenn unser Umfeld dem Problem gegenüber toleranter wäre.

Ich bin selbst Legastheniker. Deshalb kenne ich das Problem mit dem Outing und kann die Hemmungen und Ängste in dieser Hinsicht verstehen. Oft kann die Umwelt nicht nachvollziehen, was es bedeutet, ein legasthener Mensch zu sein. Ich habe mich 1998 während einer gesellschaftskritischen Fotoausstellung zum ersten Mal öffentlich geoutet. Damals wusste man noch wenig über dieses Thema. Man galt als lernbehindert und es war schwierig, sich aus dieser „Schublade“ zu befreien. Die staatlichen Behörden und das unmittelbare familiäre Umfeld konnten damit nur wenig anfangen. Daran hat sich in den letzten 20 Jahren nicht viel geändert, auch wenn die Legasthenie immer wieder thematisiert wird. Einige Selbsthilfeverbände, wie der Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie, kämpfen dafür, dass die Legasthenie als chronische Krankheit oder Behinderung anerkannt wird. Einige Betroffene mögen das gutheißen. Ich lehne dies wie viele andere ab, weil dieser Behindertenstatus (wegen der teilweise auftretenden psychischen Probleme sind maximal 20 Prozent „Grad der Behinderung“ möglich) uns nicht weiterhilft.

Vielmehr brauchen die Betroffenen Ermutigung und Unterstützung zur individuellen Bewältigung ihrer Legasthenie. Im Einzelfall kann auch psychologische Hilfe bei der Aufarbeitung einer problembeladenen Biografie und beim Aufbau eines gesundes Selbstbildes hilfreich sein.

Ich weiß, wovon ich hier schreibe. Unser Bildungswesen hat mich lange Zeit als behindert eingestuft. Es war ein langer Kampf, persönlich und beruflich in diese Gesellschaft integriert zu werden.

Heute arbeite ich als betroffener Experte und Leiter unseres Institutes in meinem Fachgebiet. Bis heute bereue ich nicht, dass ich mich damals getraut habe, mich öffentlich als Betroffener zu outen. Das hat mich Schritt für Schritt in mein heutiges Leben gebracht, mir viel Freiheit gegeben und meine Entwicklung positiv beeinflusst. Ähnliches kenne ich auch von einigen meiner Schützlinge. In den heutigen Zeiten der Inklusion sollte es kein Thema mehr sein, sich als Legastheniker zu outen, ohne deswegen stigmatisiert zu werden. Gerne gebe ich euch dazu persönliche Tipps.

Ich wünsche Euch viel Mut für diesen Schritt!

Wer nicht von Legasthenie betroffen ist, kann uns nicht verstehen

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte

Lars_Michael_LehmannJa, viele Menschen, die keine Probleme beim Lesen und Schreiben haben, können diese Schwierigkeiten nicht oder nur selten nachvollziehen. Das betrifft nicht nur Lehrer oder Eltern, die keine Schwierigkeiten in der Schulzeit hatten oder diese verheimlichen. Es betrifft auch Fachleute, die mit legasthenen Kindern arbeiten. Mitreden kann man nur, wenn man die Probleme erlebt und durchlebt sowie im Leben bewältigt hat. Darum haben wir wenige Fachleute auf unserem Feld, die die Schwierigkeiten bei uns Betroffenen wirklich nachvollziehen können. Deshalb gibt es häufig nur wenig Verständnis für die Problematik in unseren Familien wie in der gesamten Gesellschaft.

In unserer Gesellschaft meint man noch heute, dass man als Legastheniker zu „faul“ bzw. zu „dumm“ ist oder aus Bequemlichkeit diese Schwäche hat. Sicherlich gibt es Menschen, die meinen, sich damit einen Vorteil zu verschaffen, indem sie sich einen Nachteilsausgleich für Prüfungen im Studium oder der Berufsausbildung erschleichen wollen. So ist es in der Regel nicht, die Mehrheit der Hilfesuchenden ist wirklich betroffen. Der Großteil kann die Schwierigkeiten über ihre gesamte Schulzeit belegen. Zumindest müssen sie diese in unserem Institut durch ihre Zeugnisse belegen. Dazu reicht häufig eine Diagnostik nach den Kriterien des ICD-10-Manuals nicht aus, denn diese Herangehensweise orientiert sich nur an einem Störbild und trägt wenig zur Bewältigung der Schwäche bei. Darum helfen klinische Diagnosen als Lese-Rechtschreib-Störung den Betroffenen wenig. Was soll man mit einer Störung nur anfangen? Eine Hilfe zur Bewältigung kann das nicht bedeuten! Deshalb wäre eine Abschaffung dieser Richtlinien der ICD-10, die uns Betroffene diskriminiert, besser. Ein diagnostiziertes Störbild hilft niemandem. Besser wäre es, die Probleme zu erkennen und zielorientiert durch eine spezielle Förderung bewältigen zu lernen. Dazu benötigt man kein Störbild, sondern hier braucht es gesunden Menschenverstand und den Willen zu Bewältigung.

Nicht wenige Betroffene hatten während der gesamten Schulzeit ihre Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und das in unterschiedlich starker Ausprägung. Sicherlich ähneln sich einige Fälle, doch jeder Betroffene hat eine andere Entwicklungsgeschichte und eine andere familiäre Prägung erlebt. Deshalb verlief die Bewältigung der Schwierigkeiten bei erwachsenen Legasthenikern unterschiedlich.

Viele Betroffene klagen über das gesellschaftliche Unverständnis. Das hört man vom normalen Handwerksgesellen bis zum promovierten Akademiker. Sicherlich liegt es nicht selten an der Kindheit, wie die Probleme bewältigt wurden. Betroffene mit einem  stabilen familiären Gefüge werden die Probleme häufig besser bewältigt haben als solche, wo es familiäre Belastungen gab wie Trennung der Eltern oder Streitigkeiten, psychische Erkrankungen oder Arbeitslosigkeit, suchterkrankte Elternteile etc. Hier sieht man deutlich, dass die Betroffenen ganz unterschiedlich sein können, weshalb eine gesellschaftliche Ignoranz fehl am Platz ist.

Sicherlich wäre mehr Offenheit und Verständnis in unserer Gesellschaft ganz gut. Viel wichtiger ist aber, dass wir uns als Betroffene unserer vorhandenen Stärken bewusster werden, diese sollten der Fokus sein und nicht eine lebensferne Störung, die uns ideologisch dominierte Selbsthilfeverbände und Gruppen einreden wollen. Es kann nicht das Ziel sein, uns gegenseitig zu vergewissern, wie schlecht unsere Gesellschaft und wie unverständig unsere Umwelt auf uns reagiert. Wie schon in der Überschrift gesagt: „Wer nicht von Legasthenie betroffen ist, kann uns nicht verstehen“. Darum sollten wir uns auf unsere Stärken besinnen und nicht auf unsere Schwächen, denn die gilt es zu bewältigen! Wir werden die Schwierigkeiten nur in den Griff bekommen, wenn wir uns keine medizinische Störung einreden lassen.

 

Aus der Perspektive eines Betroffenen: Ist man als Legastheniker wirklich behindert?

Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Legasthenie behindert

Lars M. Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Ja, ich habe es am eigenen Leib erfahren, dass man als Legastheniker als behindert angesehen wird. Damals zur DDR-Zeit galt man mit Lernproblemen beim Lesen und Schreiben recht schnell als lernbehindert und musste auf eine „Hilfsschule“ gehen. Zu dieser Zeit kannte man den Begriff „Legasthenie“ nicht. Heute ist es zwar etwas humaner geworden, wenn ich mir die Entwicklung in Mitteldeutschland seit der Wende 1989 ansehe. Trotzdem weiß man über unsere Herausforderungen als Legastheniker nur wenig. Im heutigen Bildungswesen ist man zwar offener oder inklusiver geworden. Dennoch wissen viele Fachleute, die mit Betroffenen arbeiten, recht wenig darüber und können sich nicht in unsere Lebens- und Gefühlswelt hineinversetzen.

Eine Schublade oder ein Etikett „behindert“ oder „krank“ hat man für uns schnell parat. Ich halte es für einen Fehler, dass selbst der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. uns Betroffene so sieht. Denn der Verband kämpft schon seit Jahren für eine anerkannte Behinderung oder Krankheit, die im medizinischen Manual der ICD-10 als umschriebenes psychisches Störbild gelistet ist. Deswegen bin ich auch kein Mitglied in diesem Verband.

In den 90er Jahren erfuhr ich erst über Umwege, dass ich kein gängiger Lernbehinderter war, sondern verschiedene Fachleute meinten, dass ich ein normal intelligenter Legastheniker sei. Folgerichtig dachte ich, dass ich jede Bildungschance erhalten müsste und forderte sie bei Behörden und Ministerien ein. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich nicht, dass wir Betroffenen als Behinderte eingeordnet wurden. Deshalb war es nicht einfach, über die Agentur für Arbeit eine passende berufliche Rehabilitation zu erhalten. Denn die Behörde sah einen als Behinderten, was mir rückblickend nichts brachte. Die Behörde war nicht in der Lage, eine individuelle Integrationsmaßnahme zu fördern.  Sondern man bekam in der Regel nur gesagt, was man nicht darf und nicht kann. Das passte nicht zu meinen beruflichen Vorstellungen, die ich hatte.

Vor rund 20 Jahren wollte ich Fotograf werden, weil ich dafür familiär geprägt war und die entsprechende Begabung dazu hatte. Hier in Ostdeutschland spielte sicherlich die schwierige wirtschaftliche Lage eine Rolle. Obwohl ich mehrfach die Chance hatte, eine Ausbildung bei einem Fotografen zu machen, stellten sich die Behörden quer, weil in meinem Fall ein Berufsförderungswerk in Bad Pyrmont zuständig war. Das verstand ich damals nicht. Denn mit einer Legasthenie braucht man aus heutiger Sicht mehr Zeit für schriftliche Arbeiten, die Rechtschreibung war in diesem Fach weniger von Bedeutung. Hier zählen etwas Mathematik, technisches Verständnis, ein hohes Maß an Kreativität und Offenheit mit Menschen zu arbeiten. Diese Voraussetzungen erfüllte ich durch reichlich Praxiserfahrung. Das berufliche Reha-Assessment sah das damals anders. Und mein Berufswunsch musste den Vorstellungen der Behörden weichen. Gezwungenermaßen wurde ich zum Siebdrucker umgeschult, womit ich nicht viel anfangen konnte. Hier wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass ein „Behindertenstatus“ nichts bringen kann. Keine wirkliche Integration, sondern Ausgrenzung. Das war Integration gegen die zu integrierende Person. Es sollte aber umgekehrt sein: Man sieht das Potenzial und fördert es dementsprechend. Darum kann man mich vielleicht verstehen, warum ich einen Behindertenstatus eher kritisch sehe. Eine Legasthenie ist eine Schwäche, die man mit viel Mut und Selbstmotivation kompensieren kann, insofern man psychisch stabil genug ist. Deshalb braucht man keinen Behindertenstatus dafür. Ich hätte mir unter einem Berufsförderungswerk vorgestellt, dass man dort einen auf die individuellen Lernschwierigkeiten zugeschnittenen Förderunterricht bekommt. Das hätte in der freien Wirtschaft besser funktioniert. Aus meiner Sicht sind solche Einrichtungen nicht wirklich zeitgemäß.

Für mich hatten diese Erfahrungen aber auch etwas Gutes. Ich konnte mich einfach nicht auf den Staat verlassen, sondern musste lernen, in Eigenverantwortung meinen beruflichen Weg zu gehen. Einfach war dieser Schritt nicht. Er war unbequem. Heute kann ich auf diese Erfahrungen mit einem Schmunzeln und in Dankbarkeit zurückblicken. Diese Erfahrungen waren neben meiner Forschung ein gutes Rüstzeug für meine heutige Arbeit mit den betroffenen Schützlingen. Denn es gibt keinen Grund, warum wir als Legastheniker zur Gruppe „behinderter Menschen“ zählen sollten.

Man darf nicht leugnen, es gibt sicherlich Erwachsene, die aufgrund schlechter Lebensbedingungen nicht ausreichend gefördert wurden und neben der Legasthenie psychische Folgeerkrankungen bekommen haben. Hier mag es Einzelfälle geben, bei denen eine seelische Behinderung gegeben ist. Aber das gilt nicht für alle Betroffenen, weshalb die klinische Psychologie, die eine Legasthenie als Behinderung einordnet, keine Hilfe zu deren Bewältigung ist.

Meine langjährige Erfahrung zeigt: Man muss die Problematik Legasthenie und LRS wesentlich differenzierter sehen. Die Ursachen und die individuellen Probleme sowie die vorhandenen Lernvoraussetzungen sind bei den Betroffenen unterschiedlich. Dabei scheint der sozioökonomische Hintergrund der Betroffenen eine wichtige Rolle zu spielen. Erhalten Betroffene in ihrer Kindheit und Jugend Hilfe zur Bewältigung ihrer Schwäche, dann werden sie seltener seelische Probleme neben der Legasthenie oder LRS entwickeln. Die LRS ist meistens eine durch Umwelteinflüsse erworbene Schwäche, während die Legasthenie oft erblich veranlagt ist. Hier braucht es mehr Forschung. Nur wenn wir die Ursachen erkennen und uns mit der frühen präventiven Förderung auskennen, können wir die Betroffenen bei der Bewältigung und Kompensierung ihrer Schwäche begleiten, was ein individuelles Fallverstehen erfordert. In der heutigen deutschsprachigen Fachwelt passiert auf diesem Gebiet zu wenig, eine rein medizinisch diagnostizierte Rechtschreibstörung bringt den Betroffenen keine wirkliche Integration. Der Fokus muss auf Differenzierung und Prävention in der Kindheit und wenn nötig im Erwachsenenalter liegen. Erwachsene benötigen dann erfahrene und einfühlsame Experten an ihrer Seite, die möglichst diese Probleme selbst durchlebt und bewältigt haben.

Es mag sein, dass wir immer vom Selbsthilfeverband und von politischer Seite Unterstützung einfordern. Ich glaube aber, es ist eine sozialromantische Utopie, dass uns das Gemeinwesen umfassend integrieren kann. Die langjährige Praxiserfahrung zeigt, man wird als Betroffener nur durch Mut und mündige Selbsthilfe seinen Platz in der Gesellschaft finden. Von staatlicher Seite kann man das nicht erwarten. Sicherlich benötigen benachteiligte Betroffene auch Hilfe. Hier ist die Zivilgesellschaft gefordert, anderen Menschen unterstützend zur Seite zu stehen. Vom Staat ist auf lange Sicht keine Hilfe zu erwarten. Wer darauf hofft, wird sicherlich sehr enttäuscht werden.