Lesesozialisierung bei leseschwachen Kindern

 

Für Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) spielt die Lesesozialisierung in ihren Familien eine wichtige Rolle. Diese Tatsache ist in der Leseforschung schon seit Jahrzehnten bekannt. Welche Erfahrungen haben wir in unserer praktischen Arbeit mit den Betroffenen gesammelt? Spielt bei allen Leseschwierigkeiten der Kinder der familiäre Hintergrund eine Rolle? Hierzu gibt es keine einfache Antwort. Doch wir können Hinweise darauf entdecken, welche Ursachen es für die Leseprobleme geben kann.

In der Fachwelt wird diskutiert, ob es bei Kindern mit LRS soziale Ursachen im familiären Umfeld gibt, die diese Leseschwierigkeiten begünstigen, obwohl diese Kinder keine Probleme haben müssten. Ein wichtiger Punkt ist dabei der übermäßige Medienkonsum (Handy, TV, Internet, Spielekonsolen). Zusätzlich spielt der soziale Hintergrund der Familien eine große Rolle. Wichtig ist dabei, welche Vorbilder die Kinder in ihren Familien erleben. Wird in der Familie allgemein wenig gelesen, dann lesen die Kinder meistens auch weniger und sie tun sich schwerer mit dem Erwerb der Lesefertigkeiten. Das bezeichnet man als Lesesozialisation.

Wir beobachten aber auch, dass Leseprobleme oft von familiären Anlagen herrühren (Legasthenie) und dort die Lesesozialisation eine geringere Rolle spielt. Ein Elternteil hat dann oft keine Probleme mit dem Lesen und es liest deswegen häufiger. Das von Legasthenie betroffene Elternteil liest weniger oder es liest nur Texte, die mit seinem beruflichen Kontext zu tun haben. Der promovierte Maschinenbauer z.B. liest nur Fachbücher für sein berufliches Vorankommen und vermeidet es, gemeinsam mit den Kindern zu lesen. Deshalb übernimmt dann das andere Elternteil die Aufgabe des Lesens mit den Kindern.

Als Fazit kann man sagen, dass die familiäre Lesesozialisation deutliche Auswirkungen auf die Lesegenese der Kinder hat. Auch die von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Lesedidaktik spielt hier eine große Rolle. Die Schule kann beim Bewältigen der Leseprobleme helfen, aber sie kann nicht die familiäre Leseübung ersetzen. Die Grundlage für gute Lesefähigkeiten wird in den Familien gelegt. Klappt das nicht, kann das Schwierigkeiten bei der Leseentwicklung der Kinder begünstigen. Diese beiden Punkte sollten in der Forschung stärker berücksichtigt werden.

 

Kann vorgeburtlicher Stress den Erwerb von Lese-Rechtschreib-Schwächen begünstigen?

In der Forschung ist bisher nicht abschließend geklärt, ob und wie vorgeburtlicher Stress eine Lese-Rechtschreib-Schwäche bei Kindern begünstigen kann. Aus der Entwicklungspsychologie und der Resilienzforschung wissen wir, dass sich eine stressige Schwangerschaft ungünstig auf die Entwicklung der Kinder auswirken kann. In der wissenschaftlichen Literatur und in den von uns geführten Interviews haben wir einige Hinweise gefunden, wie sich starker Stress auf die Kindesentwicklung auswirkt. Diese Umweltbedingungen können Kinder in ihrer psycho-emotionalen Entwicklung und der gesamten Lernbiografie bis in das Erwachsenenalter hinein nachhaltig prägen. Das kann schließlich Lernprobleme wie eine erworbene Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Konzentrationsprobleme und Störungen des Sozialverhaltens begünstigen (Schneider, 2012).

Starker negativer Stress der Mutter aufgrund von partnerschaftlichen Konflikten, der Trennung vom leiblichen Vater oder dem Verlust nahestehender Personen während der Schwangerschaft kann ein erhöhtes Stressrisiko für die kindliche Entwicklung bedeuten. Rund 30 Prozent der Familien in den USA erleben ein sehr stressiges familiäres Umfeld in der Kindheit (Maren Keller, 2020). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch in Deutschland und im deutschsprachigen Raum etwa 25 bis 30 Prozent der Kinder in ein schwieriges familiäres Umfeld hineingeboren werden.

Aus unserer langjährigen Forschung wissen wir, dass sich der vorgeburtliche Stress auf die gesamte Lernentwicklung wie auch auf die emotionale Regulierung auswirkt. In einzelnen Interviews wurde uns berichtet, dass die Schwangerschaft recht stressig war. Folgende Aussagen belegen das: „Die Schwangerschaft war sehr stressig, weil ich mich vom Vater des Kindes getrennt habe“ oder „Ich hatte viel beruflichen Stress während der Schwangerschaft“ oder „Der Vater des Kindes war Alkoholiker und hat mich während der Schwangerschaft geschlagen“. Solche oder gleichartige Aussagen zur familiären Situation während der Schwangerschaft der Mütter sind uns bekannt. Andere schlussfolgern sehr deutlich: „Meine Schwangerschaft war sehr stressig“. Diese Kinder haben dann Probleme in ihrer kindlichen Entwicklung erlebt, die je nach Situation unterschiedlich stark ausgeprägt waren. Für uns sind solche Aussagen wichtige Indizien dafür, dass sich der vorgeburtliche Stress ungünstig auf die kognitive Reifung, die emotionale Regulierungsfähigkeit sowie die sprachliche und motorische Entwicklung auswirken kann. Dieser Stress kann außerdem den Erwerb einer Lese-Rechtschreib-Schwäche begünstigen und als wichtiger Auslöser dafür gesehen werden.

Deshalb ist davon auszugehen, dass sich vorgeburtlicher Stress ungünstig auf die schriftsprachliche Entwicklung der Kinder auswirken kann. Häufig zeigen diese Kinder auch sprachliche und motorische Beeinträchtigungen.

Viele Kinder mit einer erworbenen Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) haben mit ihrer Mutter während der Schwangerschaft vorgeburtlichen Stress erlebt. Diese Zusammenhänge beobachten wir besonders häufig bei Kindern, die während der frühen Grundschulzeit sehr starke Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb aufweisen. Viele dieser Kinder müssen, wie es in Sachsen üblich ist, eine Sonderschule besuchen, die man als „LRS-Klasse“ bezeichnet.

Zusammenfassend kann man sagen: Es ist wahrscheinlich, dass sich vorgeburtlicher Stress bei Kindern mit Lern- und Lese-Rechtschreib-Schwächen ungünstig auf die Lernentwicklung in der Schule auswirkt – auch wenn noch nicht alle Ursachen dafür erkannt wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass vorgeburtlicher Stress Lernschwierigkeiten beim Sprach- und Schriftspracherwerb begünstigt, die mit der frühkindlichen Entwicklung im Zusammenhang stehen. Ein wichtiges Indiz dafür ist die frühe motorische Entwicklung der betroffenen Kinder. Viele Kinder mit Lese-Rechtschreib-Problemen hatten keine oder nur eine weniger intensive Krabbelphase, was ein Hinweis auf mögliche Probleme im späteren Schriftspracherwerb sein kann. Dazu können Schwierigkeiten im psycho-sozialen Bereich kommen, die sich durch Konzentrationsprobleme und andere Verhaltensstörungen äußern. Hier zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang, dass ungünstige soziale Umweltbedingungen in der vorgeburtlichen Phase allgemeine Lernschwächen wie auch den Erwerb einer LRS begünstigen können. Es braucht aber auch hier noch mehr Forschung, um alle Wechselwirkungen im Detail zu verstehen.

Literatur:

Schneider, Lindenberger (2012). ‘7 Vorgeburtliche Entwicklung und früheste Kindheit’, in Entwicklungspsychologie (7.Auflage), Beltz, S. 160–164. Verfügbar auf: https://www.beltz.de/fachmedien/psychologie/buecher/produkt_produktdetails/33417-entwicklungspsychologie.html.

Maren Keller, (2020) ‘Am tiefsten des U.’, in Spiegel Wissen Ausgabe 02/2020, Spiegel Verlag, S. 34-39. Verfügbar auf: https://magazin.spiegel.de/SPWI/2020/2/

 

Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt

Post vom 26.10.2009

Buchrezension – Die amerikanische Neurowissenschaftlerin und Legasthenieforscherin Maryanne Wolf sagt: „Wir sind nicht zum Lesen geboren“. Denn: „Es gibt keine Gene, die je die Entwicklung des Lesens befohlen hätten. Der Mensch erfand das Lesen erst vor wenigen Tausend Jahren. Und mit dieser Erfindung veränderten wir unmittelbar die Organisation unseres Gehirn, was uns wiederum zuvor ungekannte Denkweisen eröffnete und damit die geistige Evolution unserer Art in neue Bahnen lenkte.“ „Das lesende Gehirn“ erkundet nicht nur die wundersame Fähigkeit unseres Gehirns, das auf äußere Veränderungen immer wieder als „offene Architektur“, anzupassen vermag. Wolf ist es gelungen, sehr anschaulich die Entstehung unserer Schriftsprache, die hochkomplexen Verarbeitungsmechanismen unseres Gehirns darzustellen, ebenfalls gut erklärt werden Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten wie die Legasthenie und deren Zusammenhänge.

Mit wissenschaftlich fundierten Aussagen treffen, wie wichtig es ist, diese Menschen mit Ihren Fähigkeiten und Potenzialen individuell zu fördern. Spezifische Potenziale, die häufig bei legasthenen Menschen anzutreffen sind, werden erläutert und in den Zusammenhang gestellt. Wolf besticht mit Ihrer schriftstellerischen Fähigkeit diese sehr komplexen Zusammenhänge plastisch und logisch darzustellen. Dieses Buch ist nicht nur ein kleines Meisterwerk der populärwissenschaftlichen Literatur, nein es ist ein allumfassendes Fachbuch für eine sehr breite Leseschaft über die wissenschaftlichen Disziplinen hinweg, die sich mit dem Lesen und Schreiben und der Überwindung der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten beschäftigten.

Dieses Buch ist ein Bestseller der gegenwärtigen Legasthenieforschung. Das Buch bringt viel Gesprächsstoff in den Bereich der Leseförderung, was Fachleute ermuntern sollte, vielleicht pragmatischer und mit frischen Gedanken sich der Thematik zu widmen. Es wäre nur zu wünschen, dass dieses Sachbuch eine neue Denkweise den Lesern eröffnen
würde. Denn Lesen zu können ist ein Glück der Menschheitsgeschichte – besonders für legasthene Menschen. Wolf gibt uns damit ein Handbuch zur Förderung der Lesefertigkeiten an die Hand, die es schon im Kindergarten, in den Schulen aber auch in der neuen Wissensgesellschaft zu unterstützen gilt, besonders in Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung unserer Sprach- und Lesekultur. In einer Textpassage sagt die Autorin es ganz treffend: „Gedruckte Wörter sind wertvoll. In unseren weltweiten Bemühungen um sprachliche Bildung müssen wir das auf Papier geschriebene Wort bewahren und die nächste Generation mit multiplen Lesefertigkeiten ausstatten“.
Maryanne Wolf leitet das Center for Reading and Language Resarch an der Tufts University.

Sie ist Professorin für frühkindliche Entwicklung arbeitet auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaften mit dem Forschungsschwerpunkt Dyslexie (Legasthenie) und ist eine international angesehene Expertin für die Zusammenhänge zwischen Lesen und Gehirn.

Das lesende Gehirn

Wolf, Maryanne
2009, 349 Seiten, 29 Abb., gebundene
ISBN: 978-3-8274-2122-7, € 14,95
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