rechenschwäche / dyskalkulie

„Hat mein Kind eine Dyskalkulie?“ Immer wieder treten Eltern mit dieser Frage an Lehrer und Fachleute heran, wenn Kinder Schwierigkeiten im Fach Mathematik in der Grundschule oder in weiterführenden Schulen haben.

Heute findet man vieles im Internet, wenn Eltern nach Hilfen und Abklärung der Rechenschwierigkeiten suchen. Wenige Ansätze sind genügend wissenschaftlich fundiert. Häufig stellen sich keine langfristigen Lernerfolge bei den Kindern ein, denn viele Ursachen der Rechenprobleme bei Kindern und Jugendlichen sind bis heute nicht wissenschaftlich geklärt. Werden diese Schwierigkeiten nicht zeitig genug erkannt, kann der Verlauf dieser Rechenprobleme für die Betroffenen zu einer leidvollen Erfahrung in der Schule werden – mit der Konsequenz, dass daraus seelische Folgeerkrankungen entstehen können. Die Betroffenen dürfen dabei wegen ihrer Rechenschwäche nicht automatisch als Behinderte und psychisch Gestörte klassifiziert werden.

Bis heute gibt es sehr verschiedene Herangehensweisen an dieses Problem. So wird die Rechenschwäche in der psychodiagnostischen, sonderpädagogischen, denkpsychologischen, entwicklungspsychologischen und neurologischen Fachliteratur unterschiedlich dargestellt. In den letzten 30 Jahren bemühten sich die verschiedenen Fachdisziplinen diesen Bereich zu erforschen.

Dieses Sachbuch befasst sich mit der Diskussion der Rechenprobleme auf diesem Forschungsfeld. Es bündelt dabei die Kenntnisse im englischen Sprachraum, weil man diesen Bereich dort intensiver erforscht hat, als es gegenwärtig in Deutschland der Fall ist.

Nach einer kurzen Einleitung wird im zweiten Kapitel auf die Schwierigkeiten beim Mathematiklernen eingegangen. Dort werden Themen wie Mathematische Lern- und Lehrstörungen, der Begriff „mathematische Lernstörung“, die (sonder-)pädagogische Sichtweise von mathematischen Lernstörungen, Neuropsychologische und genetische Aspekte von mathematischen Lernstörungen, Genetische Komponenten, Typen von Lernstörungen u.v.m. behandelt.

Ein drittes Kapitel widmet sich dem mathematischen Lernen im Kontext von selbstreguliertem Lernen, Geschlecht und weiteren Determinanten. In ihm werden wichtige Aspekte über Selbstregulierung, Selbstwirksamkeit, mathematisches Selbstkonzept, Ängstlichkeit und Mathematiklernen, Geschlechterdifferenzen und mathematisches Lernen, Herkunft und Zweisprachigkeit behandelt.

Im vierten Kapitel wird auf den Erwerb von mathematischen Kenntnissen als zentralen Aspekt möglicher Schwierigkeiten beim Mathematiklernen eingegangen. In diesem Abschnitt wird der ganze fachdidaktische Aspekt des komplexen Phänomens der Rechenschwäche und Dyskalkulie beschrieben. Hierbei werden Fallstricke und Stolpersteine beim Erwerb der arithmetischen Kenntnisse der Schüler beschrieben. Es wird auf die Schwierigkeiten im Zählen, die Zählentwickelung, der Erwerb der Zählkompetenz, das dekadische Stellenwertsystem, Addition und Subtraktion u.v.m. eingegangen.

In weiteren Kapiteln wird die Studie von Herrn Prof. Dr. Urs Haeberlin und seinem Team der Universität Freiburg (CH) beschrieben. Dort hat man in einer umfangreichen Studie die Schwierigkeiten beim Erlernen der Mathematik untersucht. In der Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse wird deutlich, dass die Ursachen der Mathematikprobleme komplex sind. Die vorliegende Studie gibt einen empirischen Überblick zum umfassenden Verständnis der Rechenschwäche. Dabei werden die Zusammenhänge der komplexen Wechselwirkungen des Unterrichtes, die Gesellschaft, die Struktur im Bildungssystem und die individuelle Ebene als Ursache und Auslöser für Rechenschwächen beschrieben.

Zusammenfassende Beurteilung

Dieses Sachbuch ist in der wissenschaftlichen Literatur im deutschsprachigen Raum einmalig, da es theoretische Hintergründe und empirische Studien von betroffenen Schülerinnen und Schülern zum Thema Rechenschwäche / Dyskalkulie beschreibt. Es ist ein sehr umfangreiches Buch für Fachleute, die in der Forschung, Förderung und im Bereich Diagnostik arbeiten.

Es wird in diesem Buch fächerübergreifend auf die Problematik des Mathematiklernens eingegangen. Dabei liefert es viele Argumente für die weitere Erforschung der Dyskalkulie im Bereich der Sozial- und Bildungsforschung und der Soziologie.

Außerdem wird fundierte Kritik an der WHO-Definition mit ihrer strittigen Diskrepanz zwischen IQ-Werten und schulischen Leistungen geübt. Dazu wird auf die Herangehensweise im Bereich Lese-Recht-Schreibstörung eingegangen, die der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. empfiehlt. Nach den hier gezeigten Studienergebnissen gibt es kein haltbares Kriterium, an der Diskrepanz der WHO als Diagnoserichtlinie festzuhalten. Das ist ein Argument, auch die S3-Leitlinie für die Behandlung von Lese-Recht-Schreibstörungen abzulehnen, die fachlich die gleiche Herangehensweise empfiehlt. Denn es wird nahegelegt, dass erst dann von einer Lernstörung gesprochen werden kann, wenn die Schüler trotz gutem Unterricht kaum Lernfortschritte erzielen. Hierbei spielt die Unterrichtsqualität im Fach Mathematik eine wichtige Rolle als Indikator für Auslöser von Rechenschwächen.

Dieses Sachbuch liefert viele neue Hinweise zu den Ursachen und Zusammenhängen von Rechenschwächen (Dyskalkulie). Es verdeutlicht, dass auf diesem Feld noch viel geforscht werden muss. Betroffene, Eltern und Fachleute erhalten einen praxisnahen und wissenschaftlich fundierten Überblick mit nützlichen Hinweisen für Unterricht, Förderung und Diagnostik bei Rechenproblemen in der Schule. Dazu lassen sich viele nützliche Kenntnisse für die Praxis und Forschung ableiten.

Dieses Sachbuch gehört in das Lehramtsstudium sowie in die Fortbildung von Dyskalkuliespezialisten oder Therapeuten. Es sollte einen Anstoß dazu geben, für eine bessere Qualität in der Diagnose und Förderung von Schülern mit Rechenschwierigkeiten zu arbeiten. Die heute übliche Herangehensweise ist nicht zufriedenstellend. Möge dieser Band neue Impulse für alle liefern, die sich diesem noch wenig erforschten Problemfeld in der täglichen Arbeit widmen. So könnte es künftig besser gelingen, Definitionen, Ursachen und Erscheinungsformen der Rechenschwäche zu erkennen und ihre Diagnose bei Schülern zu erleichtern, um ihnen bei der Bewältigung der Lernschwächen zu helfen. Dazu gehört aus unserer Sicht die Soziologie, die viele Kenntnisse zu den Umweltbedingungen liefern kann. Ein pathologisches Rechenstörbild sollte in der Fachwelt ebenso wie bei der Lese-Recht-Schreibstörung hinterfragt werden. Denn die Ursachen für die Rechenschwächen sind nicht überwiegend bei den Kindern zu finden, sondern die Umweltursachen wie Unterrichtsqualität, Lernmethodik etc. sollten als Auslöser und Indikatoren besser erforscht werden.

Buchbeschreibung:

Rechenschwäche / Dyskalkulie

Theoretische Klärung und empirische Studien an betroffenen Schülerinnen und Schülern

ISBN: 978-3-258-07800-7
Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik 31
2. Auflage 2013
304 Seiten, 50 Tabellen, 10 Abbildungen
kartoniert, 15,5 x 22,5 cm, 504 g
Haupt Verlag
CHF 34.00 (UVP) / EUR 32.90 (D) / EUR 33.90 (A)