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filmausschnitt: die fabelhafte welt der amelie

Manche Menschen scheint nichts umzuwerfen. Wie ein Stehaufmännchen meistern sie schwere Zeiten und Herausforderungen mit einer scheinbaren Leichtigkeit. Diese innere Kraft wird als Resilienz bezeichnet – jedes Kind kann Resilienz lernen.

In dem Film „die fabelhafte Welt der Amelie“ erhält das Mädchen Amelie in ihrer Familie nur wenig Zuwendung und von ihrem Vater keinen körperlichen Kontakt in Form von Umarmungen oder Liebkosungen. Die einzigen Berührungen für das Kind kommen bei den regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen zustande. Dabei schlägt Amelies Herz dann immer wie wild und ihr Vater diagnostiziert fälschlicherweise einen Herzfehler bei ihr. Deshalb lässt man sie nicht auf eine öffentliche Schule gehen; sie wird von ihrer Mutter unterrichtet und hat keinerlei Kontakt zu anderen Kindern. Als Ersatz dafür erfindet sie sich eine eigene Phantasiewelt, in die sie sich mehr und mehr zurückzieht. Auch als Erwachsene in ihrem tristen Alltag als Kellnerin, findet sie Freude an den kleinen Dingen des Lebens, wie z. B. Steinchen über den Canal Saint-Martin springen zu lassen, Leute im Kino zu beobachten oder die Kruste von Crème brûlée mit dem Löffel zu knacken. Wie Amelie leben auch Kinder oft in ihrer eigenen Welt, haben imaginäre Freunde und erfreuen sich an den kleinsten Dingen. Erwachsene machen sich meist sorgen über diese Dinge: Sie erscheinen für sie als realitätsfern und nicht normal. Diese Dinge sind aber ein wichtiger Teil der kindlichen Resilienz.

Der Begriff Resilienz stammt von dem lateinischen Wort „resilire“ ab, was so viel wie „zurückspringen“ oder „abprallen“ bedeutet. Resilienz beschreibt eine Art psychische Widerstandsfähigkeit: Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und diese als Anlass für die Entwicklung zu nutzen. Immer unter dem Rückgriff auf persönliche und erworbene Ressourcen. Resilienz beinhaltet das Entstehen einer psychischen Gesundheit und Widerstandfähigkeit, den Erwerb von Bewältigungsstrategien, wie auch die Selbsterhaltung und das Selbstwertgefühl. Zu Beginn der Forschung bezeichnete Resilienz eine spezielle Eigenschaft von Personen (besonders Kindern), die ihre psychische Gesundheit unter Bedingungen erhielten, unter denen die meisten Menschen zerbrochen wären. Unter diesen schwierigen Bedingungen schaffen es nur wenige Menschen, sich ihre Resilienz zu bewahren! Im richtigen Umfeld und mit einer geeigneten Förderung kann aber jeder seine Resilienz stärken.

Resilienz fördernde Faktoren

Wesentliche Faktoren, die Resilienz beeinflussen, sind die Familie, die schulische Umgebung, die Intelligenz (insbesondere seine emotionale Intelligenz, d.h. die Fähigkeit, eigene Emotionen und Handlungen zu kontrollieren).

Eltern und ältere Geschwister können viel dazu beitragen, dass ein Kind Resilienz entwickelt, durch die Förderung von:

  • Problemlösefähigkeiten und Konfliktlösestrategien von Eltern und Kindern
  • Eigenaktivität und persönlicher Verantwortungsübernahme
  • Selbstwirksamkeit und realistische Zuschreibungen
  • Selbstwertgefühl
  • sozialen Kompetenzen, verbunden mit der Stärkung sozialer Beziehungen
  • effektiven Stressbewältigungsstrategien, wie z.B. die Fähigkeiten, Unterstützung zu mobilisieren oder sich zu entspannen
  • einem wertschätzenden Erziehungsstils
  • einer konstruktiven Kommunikation zwischen Erziehungsperson und Kind
  • einem effektivem Einsatz von Belohnung, Lob und Ermutigung

Eigenschaften resilienter Kinder

Mit der Resilienz ist das Kind mit einem unsichtbaren Schutzschild ausstatten, was Kinder zu einer stabileren Persönlichkeit verhilft. Resiliente Kinder unterschieden sich durch eine Reihe von Eigenschaften von nicht-resilienten Kindern:

  • Sie sind weniger aggressiv und mehr auf andere bezogen
  • Sie sind oft leistungsstärker, als es von ihrer Intelligenz her zu erwarten wäre
  • Sie haben ihre Impulse eher unter Kontrolle und sind disziplinierter
  • Sie sind eher in der Lage zum Belohnungsaufschub
  • Sie sind anderen Menschen zugewandt, sie reagieren positiv auf Aufmerksamkeit
  • Sie sind einfühlsamer und emotionaler
  • Sie sind vertrauensvoller
  • Sie sind nicht hart im Nehmen oder „zäh“, sie geben Schwächen eher zu
  • Sie haben eine realistische Selbsteinschätzung und Zukunftsvorstellungen
  • Sie sind sozial angepasster
  • Sie sind interessiert an Menschen, Sachen und Ideen und lernen gern
  • Sie gehen in der Regel gern zur Schule
  • Sie haben eine interne Kontrollüberzeugung – das Gefühl, Einfluss nehmen zu können
  • Sie neigen weniger zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Burn-out

Legasthenie ist keine seelische Störung

Das medizinische Störbild des Gesundheitswesens, nach welchem Kinder mit Legasthenie als therapiebedürftig, krank und behindert eingestuft werden, entspricht nicht den Beobachtungen der Forschung und dem Bild aus unserer Praxis. Kinder mit Lernproblemen reagieren ganz unterschiedlich auf Widerstände. Die Legasthenie ist aber keine angeborene seelische Störung oder geistige Behinderung. Sie ist lediglich eine andere Art der Umweltwahrnehmung und Verarbeitung. Die häufig auftretenden psychischen Probleme von Menschen mit Legasthenie sind begründet durch eine erhöhte Sensibilität im Zusammenleben mit anderen Menschen, die Stigmatisierung durch die Legasthenie als menschlicher Makel, sowie die Einstufung als geistig behinderter Mensch. Bei Kindern mit LRS oder Legasthenie steht die Lernschwäche im Fokus, weil das Umfeld dies als Störung wahrnimmt. So haben diese Kinder kaum die Möglichkeit, ihre Stärken kennenzulernen.

Anstatt die gesamte Energie auf die Schwächen zu konzentrieren, müssen Kinder mit Legasthenie ihre Stärken neben der Lernschwäche entdecken. Diese Stärken müssen gezielt gefördert werden: von den Kindern selbst, wie auch von Eltern und Lehrern. Die eigenen Stärken sind einen Ruhepol für das innere Gleichgewicht, ein Ausgleich zum Lernstress und die Quelle für das Selbstwertgefühl und die Freude am Lernen.

Bekommen die Kinder nicht die richtige Förderung und seelische Unterstützung, besteht die Gefahr, das sich aus einer Lernschwäche Verhaltensproblemen und seelische Probleme entwickeln, die diese Kinder ein Leben lang begleiten und wiederum die Stabilität der Persönlichkeit gefährden. Dies beobachten wir häufiger bei Kindern, die eine LRS-Klasse besuchen. Die Separation und der besondere Schutzraum der LRS-Klassen sind für diese Kinder nicht förderlich. Nach der LRS-Klasse müssen die Kinder wieder an der Regelschule und später im Berufsalltag bestehen können. Anstatt der Schutzzonen der LRS-Klasse müssen Kindern in ihrem gewohnten Umfeld ein positives Selbstbild entwickeln können und Bewältigungsstrategien für ihre Lernschwäche erlernen.

Wir haben bei unserer Arbeit erfolgreiche Erwachsene Legastheniker kennengelernt. Sie haben trotz Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben, sowie durch mehrfaches Scheitern in der Schule und im Berufsleben, bestehen können und haben eine gesunde Persönlichkeit entwickelt. Dies zeigt, dass eine Legasthenie nicht zwangsläufig zu einer seelischen Störung führt.

Kinder mit Legasthenie benötigen eine frühzeitige Förderung und Unterstützung, um zu erlernen mit den Widerständen, die mit einer Lernschwäche verbunden sind, zurechtzukommen. Dazu gehört der Umgang mit Unwissenheit und Unverständnis anderer gegenüber Legasthenie, aber auch das Scheitern. Die Aufgabe der Eltern ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Resilienz des Kindes sich entfalten kann, wie auch eine Balance zwischen einer altersgerechten Forderung und Förderung zu finden. Mit dieser Unterstützung können Kinder zu gestärkten Persönlichkeiten heranreifen, die bis in das Erwachsenenalter ihr Leben meistern werden.